Sonnige Besonnenheit

Über den Predigttext zum 16. Sonntag nach Trinitatis: 2. Timotheus 1,7-10

Predigttext
7 Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. 8 Schäme dich nicht, Zeugnis abzulegen für unseren Herrn, auch nicht dafür, dass ich für ihn im Gefängnis bin, sondern ertrage für das Evangelium Mühsal und Plage in der Kraft Gottes, 9 der uns errettet und berufen hat mit heiligem Ruf, nicht aufgrund unseres Tuns, sondern aufgrund seiner freien Entscheidung und seiner Gnade, die uns in Christus Jesus zugedacht wurde, vor aller Zeit, 10 jetzt aber sichtbar geworden ist im Erscheinen unseres Retters, Jesus Christus. Zürcher Bibel

Ein sonniges Gemüt, das bescheinigen wir einem heiteren, lebensfrohen und zuversichtlichen Menschen. In einem solchen Gemüt ist wenig Platz für einen Geist der Verzagtheit; das griechische Wort hierfür meint sogar Feigheit. Ein sonniges Gemüt strahlt aus durch seine Besonnenheit, also durch ein von Liebe geprägtes kluges Überlegen und ein daraus erwachsendes mutiges Handeln.

Nächstenliebe wagen

Das alles hört sich leicht und selbstverständlich an, jedenfalls in sonnigen Zeiten. Aber es sind alles andere als sonnige Zeiten, in denen Paulus lebt. Von Mühsal und Plage schreibt er und von seiner Gefangenschaft. Krisenzeiten also, in denen sich Verzagtheit und Mutlosigkeit leicht ausbreiten. Zeiten, die geradezu schreien nach Trost, Ermutigung und Beistand. Paulus redet darum vom Zeugnis ablegen, und was er damit meint, erklärt er durch das kleine Wort „ertragen“. Wörtlich übersetzt bedeutet es nämlich: gemeinsam etwas Schlimmes und Übles, Widerwärtigkeiten und Leiden aushalten. Um Mit-Leiden also geht es hier, um die Kraft, besonnen etwas zu tun, ja zu wagen, um verzagten Menschen nahe zu sein und sie zu stärken. – Von zwei solchen Wagnissen, geschehen in diesen Corona-Zeiten, will ich erzählen.

Wochenlang durften an Trauerfeiern auf dem Friedhof nur fünf Angehörige teilnehmen. Beim Trauergespräch wurde der Pfarrerin geklagt, dass somit noch nicht einmal alle Kinder der Verstorbenen zur Beisetzung kommen dürften, geschweige denn Schwieger- und Enkelkinder. Die Pfarrerin – später erklärte sie: „Ich war schon immer besser in Religion als im Rechnen…“ – sagte zu den Angehörigen: „Ich zähle nicht.“ Und dann standen außer den fünf erlaubten weitere Angehörige an verschiedenen Gräbern in der Nähe, die sie wie zufällig besuchten.

Ebenso durften in Krankenhäusern selbst schwerkranke Menschen nicht besucht werden. Ein Chefarzt vernahm, wie ein sterbender Mann immer wieder unruhig zwei Namen murmelte, die seiner Frau und seines Sohnes. Der Arzt hörte auf sein Herz und handelte aus besonnener Liebe, als er diesen beiden Angehörigen unter Wahrung strenger Schutzmaßnahmen einen Besuch ermöglichte. Die Unruhe des Mannes wich, und er konnte in der Nacht darauf friedvoll sterben. – Von ähnlichen Erfahrungen in Pflegeeinrichtungen berichten auch manche Seelsorgerinnen und Seelsorger, denen ermöglicht wurde, Verzagten und schwer Erkrankten tröstend nahe zu sein.

Der Schweizer Reformator Ulrich Zwingli hat 1529 den einprägsamen Satz gesprochen: „Tut um Gottes Willen etwas Tapferes.“ Wer sich von Gott den Geist der Verzagtheit austreiben lässt durch den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit, der bekommt den Mut, etwas Tapferes zu tun. Nicht um leichtsinniges Handeln geht es hier, und das schon gar nicht in Corona-Zeiten, sondern um verantwortungsbewusstes und phantasievolles Handeln. An Menschen „in Bedrängnis, Not und Ängsten“ (EG 91) soll und kann auf diese Weise der Geist der Kraft weitergegeben werden.

Auf den Steinen im Haupteingang der Soester Petrikirche stand zu Beginn der Corona-Krise mit Kreide geschrieben eben dieser Satz vom Geist der der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Ein schöner Hinweis darauf, dass wir überall dort, wo wir Gottes Wort hören, wo wir singen und beten, dieser Geist auch zu uns kommen will. Inzwischen hat Regen die Schrift ausgelöscht. Stürmische Zeiten können die Zuversicht des Glaubens auswischen. Aber ebenso gewiss ist, dass Gott uns immer wieder neu seinen Geist einschreiben will in unser Herz und unseren Sinn.

Christenmenschen sind besonnene Menschen. Sie bemühen sich aus der Kraft der Liebe mit zuversichtlichem Mut und ohne Leichtsinn gerade in Krisenzeiten verzagten Menschen nahe zu sein und beizustehen. Christenmenschen bitten um ein sonniges Gemüt.