Sinnvolles im Sinnlosen

Wie Annelise Pflugbeil in der Sprachlosigkeit nach dem Krieg die Musik sprechen ließ – ein Nachruf auf die Mutter der Greifswalder Bachwoche.

Annelise Pflugbeil ist mit 97 Jahren gestorben
Annelise Pflugbeil ist mit 97 Jahren gestorbenRainer Neumann

Greifswald. Am 4. Juli 2009 gedachten wir im Greifswalder Dom mit Annelise Pflugbeil und ihrer Familie des 100. Geburtstags ihres verstorbenen Mannes Hans Pflugbeil. Die Kantate erklang: „Bleib bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget“; eine Kantate für den Ostermontag, aber auch für den Alltag, denn man kann nicht immer in österlicher Hochstimmung sein. Musik, gesungen und instrumentiert, führt über den Augenblick hinaus. Sie öffnet Fenster. Sie gibt Ton, wo ich sprachlos bin, aber auch, wo ich vor Lebensglück nur noch stammeln kann.
Am Sonntag, dem 15. November, ist Kirchenmusikdirektorin Prof. Annelise Pflugbeil im Kreis ihrer Familie gestorben. Dass sie nun nicht mehr zum Greifswalder Stadtbild gehören soll, ist kaum zu glauben. Sie war zwar schon 97, saß in der letzten Zeit im Rollstuhl, aber bei der Bachwoche 2015 war sie noch selbstverständlich präsent. Ich erinnere mich gut, wie sich nach der Großen Kammermusik am Ausgang der Jacobikirche ihr Rollstuhl beinahe mit dem von Hans-Peter Günther verhakt hätte. Mit Humor wurde die Situation von den beiden Musikanten Gottes gemeistert und der Älteren die Vorfahrt gewährt.

Musikalische Ausbildung gleich nach dem Krieg

In ihrer Geburtsstadt Stettin hatte Annelise Pflugbeil nach dem Abitur Klavier und Cembalo studiert. 1941 übernimmt sie dort am „Seminar für Evangelische Kirchenmusik“  eine Dozentur und wirkt als Solistin zwei Jahre später auch an einer Stettiner Bachwoche mit. Mit Instrumenten und Unterlagen des kirchenmusikalischen Seminars verlässt sie in den Wirren des Kriegsendes die Stadt und beginnt schon am 1. Juni 1945 mit der kirchenmusikalischen Ausbildung am neuen Standort Greifswald.
Hier trifft sie auf Hans Pflugbeil, den Domkantor. Er ist schwer verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt: Der rechte Arm fehlt. Auch die Seele ist verletzt. Eigentlich will er nur seine Sachen aus Greifswald holen. Seine Kantorenstelle an St. Nikolai Greifswald mit Chor und Orgel ist für ihn nur noch Geschichte, Erinnerung – vergraben, verschüttet.
Der Neubeginn in der Liebe zur Musik und in der Liebe zu einer überaus musikalischen und motivierenden Frau ist ein Wunder. Auch wenn Bach für zwei Hände komponiert hat, auch wenn klassisch mit zwei Armen dirigiert wird – das Leben, die Leidenschaft und die Liebe sind stärker. Mit drei Armen stemmen Pflugbeils den Neubeginn der kirchenmusikalischen Ausbildung.

Wie die Bachwoche entstand

Die Grauen des Krieges sind noch sehr real. Wie beten, wenn alle Worte verbraucht scheinen? Mit Musik? Geht das nach so viel Elend? Ist nicht immer noch finstere Nacht?
Pflugbeils erinnern sich an die „Nullte Bachwoche“, die Bachtage, die sie  in Stettin erlebt hatten. Sie legen mit anderen davongekommenen Musikern zusammen, was zu finden ist: Musik, Nahrung, wiedererwachende Lebensfreude. Und wie bei der Speisung der 5000 reicht es für ein großes geistliches Musikfest im unzerstörten Greifswald. Lob und Dank, Bitte und Fürbitte – instrumental und vokal, in Töne und das gesungene Wort des Glaubens gefasst. In einem geistlich geschützten Raum können Menschen ihre unterschiedlichen Lebenserfahrungen zusammenlegen und gestärkt in den Alltag zurückkehren.
So wird auch 1974, nach dem plötzlichen Tod von Hans Pflugbeil, die von ihm vorbereitete Bachwoche gefeiert – vielleicht nicht ganz so ausgelassen wie sonst, aber doch als ein Fest des Lebens und der die Dunkelheit der Nacht durchbrechenden Liebe Gottes, der Tränen trocknet, der uns wieder auf die Füße stellt und zu neuem Leben führt.
Annelise Pflugbeil bleibt der Greifswalder Bachwoche treu. Noch viele Jahre eröffnet sie mit einer Clavichordmusik den musikalischen Reigen in der Stadt. Als das nicht mehr geht, ist sie mit Humor und Fachverstand ihrem Musikfest und ihrer Kirchenmusikschule verbunden.

Hiddensee – ein Paradies

Hiddensee sei noch erwähnt. Das hinter Rügen verborgene Kleinod war für sie und ihre Familie ein Paradies. Auf dem Friedhof in Kloster liegt das Grab ihres Mannes. Auch sie wird dorthin zurückkehren.
„Bleib bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget“ – Glaubensalltag mit Ausblick. Wir wollen uns ihrer dankbar erinnern.
Unser Autor
Ulrich Tetzlaff ist Oberkirchenrat der Nordkirche