Revolution in Lemgo

Ein Abgesandter stürzt ins Rathaus: „Drüben, in der Kirche – die singen. Alle!“ Warum das beim Bürgermeister Panik und in Lemgo die Reformation auslöst

Wer heutzutage den Gottesdienst umkrempeln will, wird dazu nicht unbedingt Luther-Lieder singen. Aber das war mal ganz anders.
Zum Beispiel in Lemgo.
Die Stadt im Lipperland war im Mittelalter zu Wohlstand gekommen. Die erfolgreichen Kaufleute, die hier residierten, waren selbstbewusste und unabhängige Bürgerinnen und Bürger. Man war Mitglied der Hanse, unterhielt Handelsbeziehungen in ganz Deutschland und halb Europa. Mit den Waren und Gütern kamen auch neue Gedanken und Ideen in die Stadt. So auch das Gedankengut der Reformation.  Schon 1517 las man Luthers Schriften. Und die neue Lehre fiel in Lemgo auf fruchtbaren Boden.
Die Umgebung war streng dem traditionellen Glauben verpflichtet, der römischen Kirche. Auch der Landesherr, Graf Simon V. von Lippe, wollte nichts von den neuen Ideen eines Martin Luthers wissen.
In der Stadt aber begann es zu brodeln.
Das Jahr 1527: Im Ratssaal hat der Bürgermeister den Rat der Stadt zusammenkommen lassen. Gegenüber, in der Nicolaikirche, feiert die Gemeinde Gottesdienst. Nun will es der Bürgermeister wissen: Was ist dran an den Befürchtungen, dass die Gläubigen drüben der neuen Irrlehren anhängen? Gerüchte machen die Runde, dass in der heiligen Messe die Gemeinde sogar selbst singen würde. Unerhört!
Der Bürgermeister schickt den Diener rüber. Der soll in der Kirche nachschauen.

Der Bürgermeister: „O weh! Es ist alles verloren.“

Und tatsächlich. Kurz darauf kommt der Diener zurückgerannt, stürmt in den Ratssaal und ruft: „Es stimmt! Sie singen alle.“ Der Bürgermeister ist erschüttert. „O weh“, so soll er gesagt haben, „es ist alles verloren“.
Sie singen alle – das sollte von jenem Tag an zu einem Symbol der lutherischen Bewegung werden: Die Gemeinde singt. Das ist Revolution.
Was ist daran so unerhört?
„Man muss das verstehen“, sagt  Andreas Lange. Der promovierte Diakoniewissenschaftler ist Lutherischer Superintendent an St. Nicolai. „Bis zur Reformation hatte die Gemeinde im Gottesdienst still zu sein.“ Der Priester sprach, die Schola – ein kleiner Chor aus Spezialisten – sang. Die Gemeinde hörte zu – und verstand: Nichts. Denn alles, was im Gottesdienst gesungen oder gesprochen wurde, war auf Latein. „Und nun kommt Luther“, erklärt Andreas Lange. „Er übersetzt die Bibel ins Deutsche. Und er schreibt deutsche Texte, die die Gemeinde im Gottesdienst singen kann.“ Das war tatsächlich Revolution.
„Luther war geschickt“, berichtet Lange. „Er sprach die Menschen auf zwei Ebenen an: die gebildeten über seine Schriften.“ Aber dazu musste man lesen können; für das einfache Volk damals: keine Chance. „Deshalb hat er die Lieder geschrieben. Oft auf Melodien, die die Menschen kannten.“ Die Musik zog die Leute mit. Die neue Lehre – sie wurde beim Singen eingeübt, leicht und voller Freude, wieder und wieder.
Es waren also nicht in erster Linie künstlerische Ambitionen, die Martin Luther zum Lieder schreiben trieben. Sondern vor allem wohl strategische Überlegungen. Sein kommunikatives Grundbekenntnis –  dem Volk aufs Maul schauen – hieß ja nicht, den Leuten nach dem Mund zu reden. Es ging Luther darum, seine Gedanken verständlich mitzuteilen. Und dazu schien ihm die Musik geradezu der Königsweg zu sein. „Ein Lied wie ,Vom Himmel hoch, da komm ich her“, erklärt Lange, „wenn man das aufmerksam gesungen hat, kennt man die gesamte Weihnachtsgeschichte, einschließlich theologischer Auslegung“.
Und wie sieht es heute aus in Lemgo?
Noch immer ist die Stadt eine Bastion des lutherischen Bekenntnisses. In einer Landeskirche, die ganz überwiegend reformiert geprägt ist (Graf Simon VI. trat 1605 zum evangelisch-reformierten Bekenntnis über), wird hier die Fahne des Luthertums hochgehalten. In St. Nicolai gehört der Gesang noch immer zu den Säulen des Gottesdienstes. Gemeinsam mit dem A-Kirchenmusiker der Gemeinde wählt der Pfarrer die Lieder aus. Dabei versucht An­dreas Lange auch, bestimmte Lieder regelmäßig singen zu lassen. „Das ist der Gedanke der Kernlieder.“ Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat dieses Projekt vor Jahren angestoßen. „Viele dieser Lieder haben sich bewährt“, so Lange. „Trotzdem müssen auch immer wieder neue Lieder dazukommen, die in Musik und Sprachfluss aktuellen Gewohnheiten entsprechen. Die Arbeiten an einem neuen Gesangbuch für die evangelischen Kirchen in Deutschland laufen“, so Andreas Lange, der auch Mitglied im Präsidium der EKD-Synode ist. Etwa zehn Jahre, so schätzt Lange, wird es noch dauern. Dann soll das neue Gesangbuch vorliegen. Und es soll eine Hilfe sein, damit es auch zukünftig von den evangelischen Gemeinden heißt: Es stimmt, sie singen alle.