Reformationstag 2024: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Jüdinnen und Juden werden in diesen Tagen angegriffen und bedroht. Was bedeutet das für die Kirche der Reformation? Ein Gastbeitrag des Berliner Bischofs Christian Stäblein.

Vor dem Brandenburger Tor bekunden Menschen ihre Solidarität mit Israel
Vor dem Brandenburger Tor bekunden Menschen ihre Solidarität mit Israelepd-bild / Rolf Zöllner

Mit dem Reformationstag kommt die geistliche Erinnerung an eine der großen Zeitenwenden in der Glaubensgeschichte im 16. Jahrhundert. Aus der niederdrückenden Suche nach einem gerechten Gott wird die frohe Erkenntnis, dass Gott mich gütig ansieht. Mit dem Reformationstag in der kommenden Woche kommt auch die geistliche wie handfeste Erinnerung an das Reformationsjubiläum 2017, zu dem die breit weitergegebene Erkenntnis gehörte: Der Antisemitismus Martin Luthers und in seiner Folge in der evangelischen Theologie soll für alle Zeit der Vergangenheit angehören.

Christliches Glaubensverstehen lässt sich nur in Bezug auf das Judentum und die jüdischen Geschwister formulieren, niemals gegen sie. Diese Erneuerung, ja, man kann sagen: zweite Reformation hat in den letzten Jahrzehnten viele Zeugnisse gehabt – eines der bedeutsamsten davon ist wohl der Rheinische Synodalbeschluss von 1980, eines der wenigen christlichen Bekenntnisse auch zur Errichtung des modernen Staates Israel.

Reformatorische Zeitenwende

Man sollte diesen Beschluss der Synode der evangelischen Kirche im Rheinland vor über 40 Jahren durchaus als reformatorische Zeitenwende bezeichnen. Entsprechend heißt es in der Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz in Artikel 12, dass sich die Kirche zur „Anteilnahme am Weg des jüdischen Volkes verpflichtet“ sieht.

Christian Stäblein ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
Christian Stäblein ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitzepd-bild / Heike Lyding

In diesen Wochen kommt es offenbar zum Schwur, ob und was diese reformatorische Zeitenwende wert ist. Weil es sich in diesen Tagen zeigt, ob die Rede vom „Nie wieder“ ein kostenfreies Lippenbekenntnis war, oder ob es auch dann gilt, gerade dann gilt, wenn in diesem Land Jüdinnen und Juden angegriffen und bedroht werden, wenn sie Angst haben müssen, ihre Kinder zur Schule oder Kita zu schicken, wenn sie aufgerufen werden, ihre Glaubenssymbole – Davidsstern oder Kippa – zu verstecken. Nun kommt es drauf an, ob die Solidarität mit Israel sowie die mit Jüdinnen und Juden in Deutschland ein freundlicher Zuspruch in besseren Zeiten war, oder ob sie jetzt gilt, wo Davidssterne zur „Markierung“ jüdischer Bewohner auf Häuser geschmiert und Molotowcocktails auf eine Synagoge geworfen werden.

All das ist absolut unerträglich, eine Schande. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass das in diesem Land (wieder) geschieht. Aber was ich mir nicht vorstellen konnte, spielt im Moment keine Rolle. Entscheidend ist, was wir jetzt tun, was jetzt als Kirche, als Christ, als Christin zu tun ist. Entscheidend ist die Solidarität jetzt, nichts anderes.

Schalom über Israel und dem Erdkreis

Als ich vor knapp 40 Jahren in einem meiner ersten Semester mir das Buch von meinem damaligen Berliner theologischen Lehrer Friedrich-Wilhelm Marquardt – seine leidenschaftliche christliche Rede für die Erneuerung der Theologie nach Auschwitz – signieren ließ, schrieb er auf die zweite Seite das bekannte, durchaus geistliche Wort: „Wenn nicht jetzt, wann dann.“ Und, wenn ich mich recht erinnere, auch: „Wenn nicht du, wer sonst.“ Recht verstanden habe ich die Sätze damals nicht. Heute scheint ihre Zeit gekommen. Reformation – das heißt ja auch: Glaube ist immer jetzt und für dich, für mich. Oder er bleibt leer, geistlos.

Als ich letzte Woche am täglichen Gebet für die entführten und verschleppten israelischen Geiseln in der Synagoge teilnahm, haben wir, Juden, Christen und Muslime, wieder und wieder – auf Hebräisch – gesungen: Schalom über Israel – und über allen Bewohnern des Erdkreises. Wieder und wieder. Mit genau diesem Wunsch stehen wir an Israels Seite, beten an ihrer Seite. In der Trauer über alles Leid. Mitfühlen und Mitleiden ist nicht gebunden an Orte und wird auch nicht hierarchisiert, es gilt im Süden und im Norden Israels nicht anders als für die vielen unschuldigen Menschen in Gaza, die von den Terroristen der Hamas in schreckliche Mithaftung genommen werden. Schalom über Israel – und über allen Bewohnern des Erdkreises. So rufen und beten wir an Israels Seite. Wenn nicht jetzt, wann dann. Wenn nicht du, wer sonst.