Publizist Asfa-Wossen Asserate über europäische Afrikapolitik

Die Wahlen im Osten Deutschlands, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der Dauerstreit in der Ampel: solche Themen dominieren seit Wochen die politischen Debatten in Deutschland. Wenig bis gar nichts ist dagegen über das noch vor kurzem als “Nachbarn” und “Chancenkontinent” bezeichnete Afrika zu hören. Ein Fehler, findet der Publizist Asfa-Wossen Asserate im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

KNA: Herr Asserate, vor bald 70 Jahren kam Ihr Großonkel, der damalige äthiopische Kaiser Haile Selassie, nach Deutschland. Es handelte sich um den ersten Staatsbesuch in der Geschichte der Bundesrepublik. Markierte diese Visite auch den Beginn der Beziehung zwischen den beiden Ländern?

Asserate: Oh nein! Die Verbindung ist viel älter, aber das wissen die Wenigsten. Wir feiern in diesem Jahr den 400. Geburtstag von Hiob Ludolf. Er hat an der Universität in Leipzig die äthiopische Philologie etabliert – lange, bevor es ein Fach wie die Germanistik gab. Der Vater der Äthiopistik zeigte der Welt schon im 17. Jahrhundert, was für eine reiche Kultur Äthiopien besitzt. Die diplomatischen Beziehungen reichen in das beginnende 20. Jahrhundert zurück.

KNA: Wie ist es heute um das Verhältnis zwischen Deutschland und Äthiopien bestellt?

Asserate: Ach, das ist eine schwierige Geschichte. Und das gilt im Übrigen für die gesamte Afrikapolitik Deutschlands und Europas. Man muss sich ja die Frage stellen: Gibt es sie überhaupt noch?

KNA: Ihre Antwort?

Asserate: Wir gehen durch eine sehr schwierige Phase. Wenn wir so weitermachen, ist Afrika für Europa verloren. Nur ein Beispiel: Als Russland seinen Krieg gegen die Ukraine anfing, erfuhr ich, dass 3.000 Studenten zur russischen Botschaft in Addis Abeba marschiert seien und dort die Parole ausgegeben hätten: “Schickt uns in die Ukraine, wir wollen auf eurer Seite kämpfen.” Das kommt nicht etwa daher, dass sich die Äthiopier nicht mit der Ukraine identifizieren würden. Wir haben ja selbst vor 80 Jahren um unsere Unabhängigkeit gekämpft.

KNA: Sondern?

Asserate: Die jungen Leute wollten ihren grundsätzlichen Hass gegenüber Amerika und dem Westen ausdrücken. Der war in Afrika noch nie so hoch wie jetzt.

KNA: Woran liegt das?

Asserate: Auch dazu ein Beispiel. Weil der Putschist aus Burkina Faso, Ibrahim Traore, die Franzosen aus dem Land getrieben hat, nannte man ihn zeitweilig den zweiten Sankara…

KNA: …, nach Thomas Sankara, einem der Vorkämpfer für die Loslösung des Landes von Frankreich.

Asserate: Die ehemaligen französischen Kolonien sind zwar seit den 60er-Jahren offiziell unabhängig. Aber wenn etwa ein Finanzminister aus dem Senegal heute einen Millionenkredit von der Weltbank haben möchte, dann muss er sein Gesuch zunächst an die französische Nationalbank schicken, weil die sich als die eigentliche Währungshüterin sieht. Niger gehört zu den ärmsten Ländern auf dem Kontinent, obwohl es der weltweit drittgrößte Exporteur von Uran ist. Einen Teil des Urans, den die Franzosen für ihre Atommeiler benötigen, kommt aus dem Niger. Aber das Land hat in all den Jahren nur einen Bruchteil aus den Erlösen bekommen.

KNA: Macht Deutschland es besser?

Asserate: Seit 35 Jahren kämpfe ich dafür, deutsche mittelständische Unternehmer davon zu überzeugen, nach Afrika zu kommen und dort zu investieren. Aber da passiert nicht viel. Auf der anderen Seite hören wir immer wieder: “Die Afrikaner sind undankbar – wir geben ihnen Milliarden an Entwicklungshilfe und sie machen Geschäfte mit den Chinesen.”

KNA: Ist da denn nicht was dran?

Asserate: Was sollen wir denn tun? Wir haben 35 Jahre auf euch gewartet und ihr seid nicht gekommen. Unsere Bevölkerung wächst, die Jugendarbeitslosigkeit liegt in manchen Ländern bei 70 Prozent. Perspektivlosigkeit ist einer der Gründe für Migration. Vielen Menschen hierzulande bereitet es Sorgen, dass im Jahr 2050 ein Viertel der Menschheit Afrikaner und nur noch fünf Prozent Europäer sein werden. Aber gerade deswegen müssen wir die Augen öffnen und nach Perspektiven suchen. Mauern zu bauen und Europa abzuschotten, ist keine Lösung. Lasst uns jetzt etwas dafür tun, damit die Afrikaner in ihren eigenen Ländern ein menschenwürdiges Dasein führen können!

KNA: Hat das jemand in Berlin auf dem Schirm?

Asserate: Nein. Niemand hat eine Vision für die Zukunft. Mein Eindruck ist, dass die Politiker nur mit den Problemen von heute befasst sind und sich keine Zeit mehr nehmen, um nach vorne zu schauen. Stattdessen müssen wir immer wieder mit ansehen, wie afrikanische Diktatoren mit allen militärischen Ehren empfangen werden, wenn sie für Europa nützlich sind. Da dreht sich nicht nur vielen Afrikanern der Magen um.

KNA: So etwas läuft gern unter dem Stichwort Realpolitik.

Asserate: Das wird aber zu einem Problem, wenn dieselben Politiker in Sonntagsreden immer wieder das Hohelied der europäischen Werte singen.

KNA: Vorschlag: Europa unterstützt nur noch diejenigen afrikanischen Staaten, die die UN-Menschenrechtscharta respektieren.

Asserate: Da gibt es vielleicht Skrupel, weil dann die afrikanischen Staaten sagen könnten: “Moment mal, daran war nur Äthiopien als Gründungsmitglied der UNO beteiligt. Die Menschenrechte von 1948 sind alle eurozentrisch.” Aber es gibt inzwischen keine Ausrede mehr.

KNA: Warum?

Asserate: Seit 2013 haben wir die Agenda 2063, die inzwischen von fast allen afrikanischen Staaten ratifiziert wurde. Ein großartiges Werk von Afrikanern für Afrikaner. Da stehen wunderbare Dinge über Menschenrechte drin. Wie wäre es, wenn die Europäer sagen würden: “Wenn Du Dich an diese Agenda hältst, bin ich Dein Freund. Meine Wähler wollen nicht mehr, dass wir Regierungen unterstützen, die Andere unterdrücken.” Lasst uns das zur Basis der europäisch-afrikanischen Beziehungen machen!