Der Bialowieza-Wald an der polnisch-belarussischen Grenze ist ein friedlicher Ort. Die Abendsonne taucht die Baumwipfel in warmes Licht. Touristen übernachten hier in der Hoffnung, Wisenten zu begegnen, europäischen Bisons, die in dem Wald noch frei umherziehen.
Doch wer Aleksandra Chrzanowska durch das dichte Baumwerk folgt, stößt auf Zeugnisse einer seit 2021 andauernden Krise: zerstörte Handys, eine abgewetzte Jacke, Schuhe. Zielsicher steuert die 45-Jährige die Fundorte an. Chrzanowska kennt sich gut aus in dem Wald, in den sie immer wieder aufbricht, um Flüchtlingen zu helfen.
Als Chrzanowska, für die die Hilfe im Wald ein Vollzeitjob ist, im Herbst 2021 anfing, fand die Situation an der mehr als 400 Kilometer langen Grenze zu Belarus viel Beachtung. Bilder von geflüchteten Familien, die in dem Gebiet ausharrten, gingen um die Welt. Belarus’ autoritär herrschender Machthaber Alexander Lukaschenko hatte Geflüchtete und Migranten aus Ländern wie Irak und Syrien mit dem Versprechen ins Land geholt, sie kämen über die Grenze zu Polen in die EU.
Mittlerweile sind die Kameras weg, doch immer noch stranden Geflüchtete laut Helferinnen und Helfern in dem unwegsamen Wald, wenn auch weniger. Und so hat sich die Arbeit von Grupa Granica verstetigt, einem Netzwerk von Anwohnern und Aktivistinnen. Werden sie auf Schutzsuchende aufmerksam, kommen sie, um sie mit Essen und Wasser zu versorgen, ihre Verletzungen zu behandeln oder ihnen den Weg durch den Wald zu weisen. Durchschnittlich ein bis drei Hilferufe pro Tag hätten sie zuletzt erreicht, erzählt Chrzanowska.
Dass es weniger Geflüchtete nach Polen schaffen, ist für Chrzanowska auch eine Folge der massiven Abschottung. Deren sichtbares Zeichen ist ein 187 Kilometer langer und fünfeinhalb Meter hoher Grenzzaun, oben und in der Mitte mit mehreren Rollen Klingendraht verstärkt. Hinzu kommen 11.000 Grenzbeamte und Soldaten. Seit Russlands Vollinvasion in der Ukraine im Februar 2022 vermischt sich die Migrationsabwehr hier auch mit der Furcht vor einer militärischen Bedrohung an der EU-Ostgrenze.
Dabei gehörten Gewalt und Pushbacks nach wie vor zum Alltag, so erzählen es Helferinnen und Helfer. In mehr als 1.870 Fällen wurden allein in diesem Jahr laut der Initiative „We are Monitoring“ Menschen aus Polen zurück nach Belarus gezwungen, ohne ihr Asylbegehren zu prüfen. 102 Menschen sind demnach seit 2021 in dem Grenzgebiet auf polnischer oder belarussischer Seite ums Leben gekommen.
Juristisch setzt Polen ebenfalls weiter auf Abschottung. Im Frühjahr schränkte die Regierung des liberal-konservativen Ministerpräsidenten Donald Tusk das Asylrecht an der Grenze stark ein. Das rigide Vorgehen begründet Polen damit, dass Belarus, ein enger Verbündeter Russlands, die Schutzsuchenden als Waffe einsetze. Ähnlich äußert sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Aus Sicht von Katarzyna Czarnota von der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte, deren Arbeit von der deutschen Hilfsorganisation medico international unterstützt wird, sind solche Erklärungen Teil des Problems. Zwar habe das Regime von Lukaschenko 2021 tatsächlich gezielt Menschen an die Grenze gefahren, um Bilder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu erzeugen, sagt Czarnota. Inzwischen sei die Migrationsroute jedoch weniger orchestriert. Aufgegangen sei die Strategie von Lukaschenko ohnehin nur, weil man sich in der EU nicht dazu durchringen könne, die Menschen aufzunehmen.
Viele Helferinnen und Helfer sind frustriert, dass sich seit Beginn der Krise nichts geändert hat, so auch Katarzyna Poskrobko. Die 46-Jährige arbeitet für die Initiative Egala und unterstützt Geflüchtete in einem Krankenhaus in Hajnowka, einer kleinen Stadt nahe der Grenze. Sie leisten rechtlichen Beistand oder bringen Kleidung und Essen vorbei. Mit dem Krankenhaus gebe es eine Übereinkunft über ihre Hilfe, sagt Poskrobko.
Typische Verletzungen seien Brüche, die sich die Geflüchteten zuziehen, wenn sie vom Zaun springen, erzählt Poskrobko. Es seien aber auch schon Menschen geschlagen worden, mutmaßlich von polnischen oder belarussischen Sicherheitskräften.
Der polnische Grenzschutz geht auf Nachfragen zu solchen Vorwürfen nicht ein. Stattdessen verweist ein Sprecher auf Hunderte Migrantinnen und Migranten, denen geholfen worden sei.
Poskrobko, die eine Bluse mit Blumenmuster trägt, über die sie eine dunkelgraue Strickjacke geworfen hat, wirkt nicht wie eine typische Aktivistin. Es ist ihr wichtig zu erwähnen, dass es Soldaten gibt, die Geflüchteten helfen. Auch der Grenzschutz habe Verletzte in das Krankenhaus gebracht. Doch von der Politik ist Poskrobko enttäuscht. „Niemand redet mit uns oder interessiert sich für unsere Perspektive“, sagt sie.