„Oscar“-Nominierungen 2024 – Chancen auch für Sandra Hüller

Sandra Hüller hat es zur „Oscar“-Anwärterin geschafft: Für ihren Part in „Anatomie eines Falls“ konkurriert sie um einen der Awards, die am 10. März vergeben werden. Der meistnominierte Film ist indes ein anderer.

Hollywood hat ein Herz für gebrochene Helden. Nicht unbedingt im Blockbuster-Kino, wo sich glatte Makellosigkeit eher bezahlt macht; durchaus aber dort, wo die US-Filmschaffenden über die besten Leistungen des Jahres abstimmen: In der Geschichte der „Oscars“ haben es Filme über ambivalent gezeichnete Männer (oder, in bislang selteneren Fällen, Frauen) immer wieder geschafft, bei den Mitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences eine Mehrheit für die wichtigsten Preise hinter sich zu bringen.

Beste Chancen, diese Tradition fortzusetzen, hat nun Christopher Nolans Filmbiografie des Quantenphysikers J. Robert Oppenheimer. „Oppenheimer“ wurde bei der Bekanntgabe der Nominierungen für die 96. „Academy Awards“ am Dienstag 13 Mal bedacht und darf als haushoher Favorit für die Preisverleihung am 10. März gelten.

Damit greift der britisch-US-amerikanische Filmemacher Nolan nun nach dem ersten „Oscar“ seiner Karriere – was neben dem unerwarteten Publikumszuspruch für sein anspruchsvolles, rasant montiertes Dreistunden-Epos auch seiner Stellung als einem der konsequentesten Fürsprecher der Kino-Seherfahrung zu verdanken sein dürfte.

Sah es einige Jahre lang so aus, als wären Regisseure wie Nolan, die eine Arbeit für Streaming-Dienste dankend ablehnten, bald eine aussterbende Minderheit, lassen sich die „Oscar“-Nominierungen insgesamt als Reaktion auf den Kino-Aufwind und die Streaming-Flaute lesen. Lediglich Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“, der als Produktion für AppleTV+ entstand (allerdings eine beachtlich lange Kino-Auswertung erfuhr), und Bradley Coopers Leonard-Bernstein-Biografie „Maestro“ für Netflix haben sich von Streaming-Seite für die Nominierung als „Bester Film“ platzieren können.

Ansonsten aber dominieren die buchstäblich großen Leinwanderfahrungen: Die bildgewaltige Frankenstein-Variante „Poor Things“ wurde ebenso nominiert wie die verspielte feministische Puppenfabel „Barbie“, die herausfordernden Cannes-Premieren „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“ und die sensible Romanze „Past Lives“. Komplettiert wird die Riege der zehn besten Filme des Jahres von der satirischen Komödie „American Fiction“ und der tragikomischen Freundschaftsgeschichte „The Holdovers“.

Zahlenmäßig liegen dicht hinter dem 13-fach nominierten „Oppenheimer“ „Poor Things“ mit 11 und „Killers of the Flower Moon“ mit 10 Nennungen; gefolgt von „Barbie“ mit 8 sowie „Maestro“ mit 7 Nominierungen. Diese dürften auch die größten Konkurrenten für Nolans Film sein. Schlechter sieht es für die Chancen von „Killers of the Flower Moon“ aus.

Der 81-jährige Scorsese, der mit seinem Drama den Genozid an Amerikas indigener Bevölkerung thematisierte, hatte zwar nach etlichen Kritikerpreisen als Mitfavorit gelten können und wurde erwartungsgemäß auch zum zehnten Mal als Regisseur nominiert. Keine Nominierung gab es jedoch für das von ihm mitverfasste Drehbuch des Films, was sich in den vergangenen Jahrzehnten als wichtigste Beigabe für den „Oscar“ erwiesen hat. Der bislang letzte Film, der ohne Drehbuch-Nominierung bei den „Oscars“ triumphierte, war „Titanic“ vor 26 Jahren.

„Barbie“ hingegen könnte als Kino-Phänomen des abgelaufenen Jahres auch bei den Academy-Mitgliedern punkten, auch wenn Greta Gerwig eine Nominierung als beste Regisseurin verpasste. Den Vortritt lassen musste sie neben Nolan und Scorsese auch dem griechischen „Poor Things“-Regisseur Yorgos Lanthimos, dem Briten Jonathan Glazer für sein forderndes Drama „The Zone of Interest“ über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und der Französin Justine Triet für ihr vielschichtiges Beziehungs- und Gerichtsdrama „Anatomie eines Falls“.

Dank ihrer glänzenden Rollen sowohl bei Glazer als auch bei Triet darf sich erstmals seit 1938(!) wieder eine deutsche Schauspielerin Hoffnung auf den Goldjungen machen. Sandra Hüller wurde für ihre Rolle als Mordverdächtige in „Anatomie eines Falls“ als Hauptdarstellerin nominiert und tritt gegen die Favoritin Lily Gladstone an, die es als erste „Native American“ der Historie in diese Kategorie schaffte; sowie gegen Emma Stone, Carey Mulligan und die zum fünften Mal nominierte Annette Bening.

Ebenfalls zum fünften Mal in die „Oscar“-Auswahl geschafft hat es Benings „Nyad“-Partnerin Jodie Foster bei den Nebendarstellerinnen, wo sie vor 47 Jahren mit ihrer ersten Nominierung für „Taxi Driver“ ihren Durchbruch feierte. Durchaus passend wurde auch ihr damaliger Filmpartner Robert De Niro 2024 einmal mehr nominiert – wobei zwischen seinem ersten „Oscar“-Aufschlag mit „Der Pate – Teil II“ und seiner jetzigen, achten Nominierung als mörderischer Patriarch in „Killers of the Flower Moon“ sogar 49 Jahre liegen.

Foster tritt gegen die erstmals nominierten Kolleginnen Emily Blunt, Danielle Brooks, America Ferrera und Da“Vine Joy Randolph an, wobei letzterer der Preis für ihren Auftritt als Köchin und trauernde Mutter in „The Holdovers“ kaum zu nehmen sein dürfte. Etwas offener sieht es bei den Nebendarstellern aus. Dort haben neben De Niro auch Robert Downey jr. als Oppenheimers politischer Gegenspieler Lewis Strauss, Ryan Goslings köstlicher Ken-Auftritt aus „Barbie“ und Mark Ruffalos selbstverliebter Anwalt aus „Poor Things“ Chancen. Abgerundet wird die Kategorie durch die erste „Oscar“-Berücksichtigung für den TV-Star Sterling K. Brown in „American Fiction“.

Neben Brown ist für „American Fiction“ auch Hauptdarsteller Jeffrey Wright nominiert; die überfällige erste Nominierung für einen der vielseitigsten US-Darsteller der vergangenen drei Jahrzehnte. Wrights Konkurrenten sind der irische „Oppenheimer“-Star Cillian Murphy (auch er erstmals nominiert), der zum fünften Mal nominierte Bradley Cooper für seine zweite Regie-Arbeit „Maestro“ und Paul Giamatti für seinen Traumauftritt als ausgegrenzter Lehrer in „The Holdovers“. Eher Außenseiter auf den Gewinn dürfte der fünfte Nominierte Colman Domingo für „Rustin“ sein, in dem der Theaterdarsteller als Aktivist Bayard Rustin geglänzt hatte.

Erfreulich aus deutscher Sicht ist neben der Nominierung für Hüller auch der Blick auf die Kategorie „Internationaler Film“, wo man je nach Perspektive zwei bis drei deutsche Nominierte ausmachen kann. Neben „The Zone of Interest“, zwar als amerikanisch-britisch-polnische Koproduktion entstanden, aber auf Deutsch gedreht, schafften es auch Ilker Cataks „Das Lehrerzimmer“ sowie Wim Wenders‘ Studie eines japanischen Toilettenreinigers, „Perfect Days“, unter die letzten fünf.

Auch die beiden übrigen Einreichungen stammen aus Ländern, die dort generell oft auftauchen: Italien („Io Capitano“) und Spanien („Die Schneegesellschaft“). Der ewige „Auslands-Oscar“-Favorit Frankreich ging dort zwar dieses Jahr leer aus – nicht zuletzt, weil das dortige Auswahlkomitee „Anatomie eines Falls“ nicht ins Rennen geschickt hatte. Mit den insgesamt fünf Nominierungen für Justine Triets Film darf man sich aber entschädigt fühlen.

Insgesamt orientiert sich die „Oscar“-Auswahl größtenteils an den Vorgaben der bisherigen „Awards Season“. Die zehn jetzt nominierten Filme waren auch bei anderen Preisen wie den „Golden Globes“, den „AFI Awards“ und den „Critics Choice Awards“ schon zuverlässig immer wieder aufgetaucht.

Ähnliches lässt sich über die Regie-, Drehbuch- und Schauspiel-Nominierten sagen. Entsprechend nicht wundern muss man sich über Filme, die ihre Rolle als Mitfavoriten im Laufe der vergangenen Wochen verloren und nun auch bei den „Oscars“ nicht auftauchen, insbesondere das Quintett „Ferrari“, „The Killer“, „Priscilla“, „Memory“ und „Origin“, das seine allesamt überwiegend positiven Aufnahmen beim Filmfestival in Venedig 2023 nicht in US-Filmpreis-Anerkennung zu verwandeln verstand.

Stattdessen haben die Juroren auch in den Gewerken nur wenige echte Überraschungen zugelassen. Selbst weniger erwartete Nennungen wie „El Conde“ (Kamera) oder „Flamin‘ Hot“ (Filmsong) sind letztlich leicht mit dem großen Ansehen der Nominierten Edward Lachman respektive Diane Warren in ihren jeweiligen Branchen zu erklären. Seine eigenen Rekorde als meistnominierter lebender und ältester je nominierter Künstler hat derweil der 91-jährige John Williams mit seiner 54. Berücksichtigung gebrochen (für die Musik von „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“).

Es ist einer der wenigen Plätze, den sich das Blockbuster-Kino bei den 96. „Oscars“ erobern konnte, neben der Spezialeffekte-Nennung für „Guardians of the Galaxy Vol. 3“ und den beiden ersten Nominierungen in der Geschichte der „Mission: Impossible“-Reihe für den siebten Teil „Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins“ (Ton und Spezialeffekte). Eine späte Anerkennung für ein immerhin seit 1996 mit technischer Brillanz und Originalität daherkommendes Franchise, das sich nun vielleicht endlich auch bei den „Oscars“ auszahlt.

Was man auch Wes Anderson wünschen kann, der mit seinen verspielten Werken bei den Filmpreisen bislang immer außen vor blieb, nun aber mit seiner Roald-Dahl-Adaption „The World of Henry Sugar“ bei den besten Kurzfilmen antritt. Es wäre eine schöne Gelegenheit, bei allem Jubel über „Oppenheimer“, „Poor Things“, „Barbie“ und Co. auch die vermeintlich kleineren Kategorien angemessen zu feiern.