„Niemand fühlte sich als Held“

Thomas Bretz-Rieck aus Seedorf hat den Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan begleitet. Im Interview spricht er über die emotionale Herausforderung und das Ende der Mission.

Thomas Bretz-Rieck ist evangelischer Militaerpfarrer in Seedorf zwischen Hamburg und Bremen
Thomas Bretz-Rieck ist evangelischer Militaerpfarrer in Seedorf zwischen Hamburg und BremenKay Michalak / epd

Herr Bretz-Rieck, Sie haben die Evakuierungsmission der Bundeswehr in Afghanistan als Seelsorger begleitet. Wie kam es dazu?
Thomas Bretz-Rieck: Ich bin Standortpfarrer in Seedorf, wo das Fallschirmjägerregiment 31 stationiert ist. Es war maßgeblich an diesem Einsatz beteiligt. Deshalb lag es nahe, mich zu beteiligen. Das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr hatte mich schon vor dem Evakuierungseinsatz gefragt, ob ich grundsätzlich reisefähig bin. Irgendwann kam dann die Nachricht: Samstagnacht geht es los.

Das war die Nacht auf den 22. August. Da lief der Evakuierungseinsatz bereits.
Ja. Die militärische Führung hatte realisiert, dass dieser Einsatz sehr fordernd ist. Ich bin dann zusammen mit einem Truppenpsychologen nach Taschkent geflogen worden. Dorthin brachte die Bundeswehr die Evakuierten aus Kabul ja zunächst.

War es ihr erster Einsatz im Ausland?
Ich war vor einigen Jahren in Mali und zudem gerade im April von meiner Einsatzbegleitung in Kabul zurückgekommen.

Dies war aber eine andere Art von Einsatz. Wie unterschied er sich in Ihrer Wahrnehmung?
In regulären Einsätzen gibt es einen Feldlageralltag, man trifft sich bei den Mahlzeiten. Der Alarm ist Ausnahmezustand. Diesmal war in Kabul am Flughafen der Alarm die Regel für die Männer und Frauen. In Taschkent war es ruhiger, aber wir waren zusammen in einer großen Abflughalle untergebracht. Das hieß: 30 bis 40 Zentimeter Abstand zum nächsten Bett und eine Dusche, die nicht funktionierte. Abwechselnd konnten die Soldaten eine Übernachtung in einem Hotel machen, auch um mal zu duschen.

Trotzdem blieb Zeit für Gespräche?
Es gab ein großes Bedürfnis, zu reden und damit die Situation zu verarbeiten. Das kennt ja jeder, der zum Beispiel einen Unfall beobachtet. Man muss das Erlebte erst einmal loswerden.

Und was war das?
Vor allem, dass es die Streitkräfte nicht wie in der Ausbildung mit anderen Kämpfern zu tun hatten. Darauf sind sie eingestellt. In Kabul standen aber Frauen, Männer und Kinder in Zivil vor ihnen, die in einer existenziellen, bedrohlichen, ausweglosen Lage waren. Darauf waren sie durch die Ausbildung nicht wirklich eingestellt. Die Soldatinnen und Soldaten haben Verletzte gesehen, beobachtet, wie Zivilisten davon abgehalten wurden, auf das Flughafengelände zu kommen. Und dann gab es moralische Zumutungen: Sie waren gezwungen auszuwählen, wer in den Flieger kommt und wer nicht. Oder sie mussten entscheiden, ob sie noch einen Angehörigen aus der Menge holen können. Dem einzelnen waren sehr viele existenzielle Entscheidungen aufgebürdet – in der Konsequenz vielleicht über Leben und Tod.

Können Sie ein Beispiel erzählen, ohne das Seelsorgegeheimnis zu brechen?
Mir fällt es eher schwer, weil es mich selbst berührt. Dies erzählte mir ein junger Kamerad: Am Flughafen mussten die Soldaten die Menschen durchsuchen, auch die Kinder. Das ist natürlich schwierig, schon weil sie mit Waffe und einer Montur mit Splitterschutzweste insbesondere den Kindern Angst machen. Der junge Soldat erzählte, wie ihn bei der Durchsuchung ein kleiner Junge umarmte und sagte: „Ich habe solche Angst.“ Der Soldat sagte mir später, er konnte nicht anders als den Jungen in dem Moment zu umarmen. Das Schwierige war dann aber, ihn wieder loszulassen.

Weil der Junge nicht mit ins Flugzeug konnte?
Ja.

Wie kommt ein junger Soldat damit klar?
Sie sind zunächst einmal so gut ausgebildet, dass sie auch mit krassen Dingen umgehen können. Ich mag es nicht, wenn die Soldatinnen und Soldaten pathologisiert werden. Was wir versuchen, ihnen mitzugeben, ist, dass das Emotionale mit zur Profession gehört. Wenn man das verdrängt, fällt man auf die Nase. Das wissen sie aber auch.

Das heißt, man kann so einen Einsatz auch einfach abhaken?
Nein, das nicht. Jeder Einsatz verändert einen. Das gilt auch für mich selbst. Das heißt aber nicht, dass man gleich einen bleibenden Schaden davonträgt.

Hilft auch beten oder spielt der liebe Gott bei Einsätzen wie diesen weniger eine Rolle?
Als Pfarrer sage ich: Der spielt natürlich immer eine Rolle. In den Gesprächen ist es tatsächlich aber das Wichtigste, erst einmal zuzuhören, da zu sein. Spiritualität hilft aber auch. Die meisten haben sich am Ende des Einsatzes bei einer Andacht von mir segnen lassen.

Sie sind mit den Einsatzkräften zusammen zurück nach Deutschland geflogen. Wie ist da die Stimmung an Bord?
Normalerweise ist der Rückflug immer klasse. Alle freuen sich auf Familie und Freunde, auch die Komfortzone, die man im Einsatz nicht hatte, die Privatsphäre. Das war bei diesem Rückflug anders. Alle waren erschöpft. Und wir haben – um es deutlich zu sagen – gestunken wie die Schweine. Es war sehr still. Niemand fühlte sich als Held.

Warum nicht? Es wurden mehr als 5.000 Menschen ausgeflogen.
Klar, aber dieser Einsatz war ambivalent. Es gibt selten einen Einsatz, wo der Sinn im Handeln so offen zutage liegt und man keine Sekunde hinterfragen muss, was man da tut. Diese Soldaten haben einen echten Unterschied für die Menschen gemacht, die gerettet wurden. Und gleichzeitig wussten sie, dass in Kabul noch viele weitere sind, die zurückbleiben mussten. (epd)