Nationalismus statt Kolonialkritik
Kritische Fragen zur kolonialen Vergangenheit wollen heute viele Menschen nicht mehr hören. „Aktuell erleben wir ein Zurückdrängen kolonialkritischer Forschung“, sagt der Historiker Jürgen Zimmerer dem Evangelischen Pressedienst (epd). Durch den zunehmenden Rechtsruck in der deutschen Öffentlichkeit mache sich auch eine nationalistischere Geschichtsauffassung breit. „Viele wollen wieder stolz auf die deutsche Geschichte sein, und akzeptieren höchstens noch Kritik am Dritten Reich und Holocaust“, sagt der Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ an der Hamburger Universität.
Er beobachtet, dass viele Menschen nichts hören wollen „von der langen Geschichte von Rassismus und Ausbeutung, wie sie nun mal auch Teil der deutschen Geschichte war.“ Auf der anderen Seite werde „der Westen“ seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wieder völlig unreflektiert wiederbelebt. „Über das koloniale Erbe kritisch aufzuklären, gilt manchen als Infragestellung des Westens“, beobachtet Zimmerer. Dabei zeichne sich der zum Vorbild geeignete Westen vor allem auch durch seine Fähigkeit zur Selbstkritik aus.
Die neue Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die das Thema Kolonialismus aufnehmen wollte, ist wegen der bevorstehenden Auflösung des Bundestages zunächst vom Tisch. Vor wenigen Monaten hatte das Auswärtige Amt noch die Bedeutung der Aufarbeitung des kolonialen Erbes betont: „Nur wer seine Vergangenheit kennt und reflektiert, kann Lehren für die Zukunft ziehen und starke globale Partnerschaften gestalten“, hieß es zum Bericht über die deutsche Kolonialvergangenheit des Amts, dessen damalige Kolonialabteilung für die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, Asien und Ozeanien zuständig war.
„Keine andere Konferenz auf deutschem Boden hatte eine vergleichbare weltpolitische Bedeutung wie die Afrika Konferenz 1884/85, die de facto die Aufteilung des afrikanischen Kontinents besiegelte“, sagt Historiker Zimmerer. Die damals beschlossenen Grenzen bestünden bis heute fort. Zimmerer: „Mancher Bürgerkrieg, manche ethnische Säuberung entfachte sich daran, da willkürlich Gesellschaften in Grenzen gepresst wurden.“ Mit der Afrika-Konferenz, die 1884 von Reichskanzler Otto von Bismarck einberufen wurde, begann für Deutschland eine 30-jährige Kolonialherrschaft.
Flächenmäßig war das deutsche Kolonialreich 1914 nach dem britischen und französischen das Drittgrößte. Mehrere „Aufstände“ in den deutschen Kolonien wurden blutig niedergeschlagen. In der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (Namibia) seien über 65.000 Herero und 10.000 Nama ermordet worden. „Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts“, betont Zimmerer, der sich darüber wundert, dass weder der 140. Jahrestag der Berliner Afrika-Konferenz noch der 120. Jahrestags dieses Völkermords als wichtige Gedenktermine von der Politik berücksichtigt wurden.
Für den Historiker ist die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe eine Frage historischer Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit: „Wir sollten die Geschichte erzählen, wie sie war, und nicht heroisch verklären, etwa durch eine einseitige Betonung Europas als Hort der Menschenrechte und Aufklärung.“ Nicht zuletzt galten diese Rechte zunächst nur für einen kleinen Teil europäischer Männer. Die Geschichte sollte auch eine Warnung sein, wohin Rassismus, biopolitisches Denken und ungebremster Wettkampf um Ressourcen führen: „Zu Krieg, Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung“, sagt Zimmerer.
Zudem müsse die koloniale Globalisierung mit Europa als Hauptnutznießerin verstanden werden, um zu begreifen, wie sehr sich die postkoloniale Globalisierung davon unterscheidet. Zimmerer: „Europa ist nicht mehr das Zentrum der Welt.“ Es zeichne sich eine multipolare Welt ab, in der Zentren wie die USA, China, Russland, Europa und Indien um Einfluss und Ressourcen kämpfen. Zimmerer: „Aus der Geschichte kann man auch lernen, wie schnell diese Rivalitäten zu großen Konflikten eskalieren.“