Nachruf auf Wolf Krötke (1938 – 2023)

In der DDR erlebte Wolf Krötke Schikane und Gefängnis. Als Theologe war er ein entscheidender Förderer des Evangelischen Konvikts in Berlin. Nun ist er 84-jährig gestorben. Ein Nachruf.

Wolf Krötke (1938 – 2023)
Wolf Krötke (1938 – 2023)Hoffotografen

„Wäre ‚meine Theologie‘ anders, wenn ich ein anderes Leben geführt hätte, wenn ich an irgendeiner der vielen Wegkreuzungen einen Schritt in die andere Richtung gestoßen worden wäre?“ Es war so eine Frage nach den nicht oder doch genommenen Wegen, die sich Wolf Krötke auf Anfrage öffentlich gestellt hatte. Die Frage wurde Teil eines Textes und einer Sammlung von Systematischer Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Dabei war die Selbstdarstellung gar nicht seine Sache. Vor allem fremdelte er mit Versuchen, irgendeine theologische Wahrheit aus dem eigenen Leben „aufzuspulen“, weil man ja nicht weiß, was einen selbst wirklich geprägt hat, meinte er. Viel von dem, was sich durch die Jahre hindurch in seine Seele geprägt hatte, sei ja auch für ihn selbst „ein Geheimnis“.

Dankbar trotz schwerer Wege

Wolf Krötke wurde östlich der Oder als Kind zweier Menschen mit wohl unverwechselbarer „Lebensfreude“ und „Lebensenergie“ geboren. In Krieg und Flucht nur knapp vor dem Tod bewahrt, gab es im frühen Erleben auch von Zerstörung dennoch so etwas wie eine Dankbarkeit dafür, dass er überhaupt da ist, was zu einem „hellen Grunde“ seines Lebens wurde. Davon legt sich eine Spur in seiner hoch geschätzten, auch international übersetzten theologischen Forschungsarbeit, in seinen Artikeln, Predigten, Bibelarbeiten.

Gehen und Denken gehörten für ihn zusammen, der in Haft erlebt hatte, nur auf kleinstem Raum bewegungsfähig zu sein und beim Hofgang lieber nicht nach oben schaute, weil der Blick in den Himmel schmerzte. Die Gefängniszeit, die Wolf Krötke jäh aus dem Studium riss, als er zur Klärung eines Sachverhalts zu Hause abgeholt wurde, hat sich später mit seiner theologischen Existenz verbunden.

Die Freiheit aufzublühen

Nach der Freilassung aus Waldheim, wo der Sozialismus besonders brutal zugeschlagen hatte, fand er auf seinem Geburtstagstisch die DDR-Ausgabe von Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“. Wie ihn diese Theologie sein Leben lang begleiten sollte, ahnte er wohl damals nicht, als er das Buch, wie er schrieb, nicht zu Ende lesen konnte, selbst „noch ganz in der Seele ausgefüllt mit dem be­drückenden Klima einer Zellenexistenz“. Darum „auf dem eigenen ­Leben bestehen“ und dafür sorgen, dass man und Menschen überhaupt in ihrer „Menschlichkeit aufblühen“. Das sei nicht nur bloß Lyrik, meinte er, der für Lyrik viel Herz und Kopf hatte.

Im Nachhinein ist es so, als ob es gar nicht hätte anders sein können: Sein Weg ans Sprachenkonvikt in Berlin, wo er gelernt, gelehrt, geforscht, gelebt hat – von 1973 bis 1991 als Dozent des Kirchlichen Lehramtes für Systematische Theologie. Von dort hat er über die Grenzen der DDR und auch die engen Grenzen jener Zeit hinweg Horizontweitung betrieben, besonders mit seinen Arbeiten zu Karl Barth. Dessen Texte würden mit solcher Lebendigkeit zu ihm sprechen und im Denken anregen und ermutigen, „so dass es geradezu töricht wäre, auf diesen Reichtum an Entdeckerfreude zu verzichten“.

Verwegenes Balancieren

Es muss ein verwegenes Balancieren im Sprachenkonvikt gewesen sein. Ein Provisorium als Ermöglichungs- und Freiheitsraum, auch des Lachens! Zum Beispiel über das absurde – „absurd“ hörte man ihn öfter sagen – Machtgebaren der DDR-Regierung zum Theater um seine Ehrendoktorwürde aus Tübingen, die ihm erst untersagt war zu tragen. „Abenteuerlich“ – auch so ein Wort –, unter welch widrigen Umständen dort eine Bibliothek aufgebaut wurde oder Einzelne in heiklen Situationen geschützt werden mussten.

Man ahnt, was es für den Dozent Anfang fünfzig bedeutet hatte, einst von einer sozialistischen Universität relegiert, nun gebeten, noch im letzten Ausatmen der DDR Systematik an der Humboldt-Universität zu unterrichten, dann Dekan der fusionierten Theologischen Fakultät zu werden. Eine Theologie verliert Gesicht und wissenschaft­liche Leistungsfähigkeit, wenn sie sich von Machtinteressen funktionalisieren lässt, die außerhalb der ihr durch die Beziehung auf die ­Kirche aufgegebenen Wahrheits­verantwortung liegen, mahnte er.

Wacher Zuhörer

Studierende haben ihn ehrlich interessiert. Im wachen Zuhören wartete er nicht auf Atempausen, um sich selbst reden zu hören. Nicht an Gewordenes klammern, sondern Neues sehen, prüfen vor allem! Mit Fröhlichkeit zeigen, dass Theologie ein Teilnehmen an der Verantwortlichkeit von Menschen für die Wahrheit Gottes ist, die sich stets ihre Zeiten und Orte schafft. Dass zum Leben auch Fußball, Tennis, Karten, Schach und Musik, etwa von Bach bis Biermann, gehören können, hat er Jüngere auf legendären Seminarreisen gelehrt. Auch dort das Lachen, das Denk­verkrampfungen löste und das Eberhard Jüngel bei der Laudatio auf Wolf Krötke zur Verleihung des Karl-Barth-Preises 1990 erwähnenswert fand.

Im Seminar konnten Funken fliegen, wenn plötzlich ein Licht aufging. Klar gab es auch „Knoten im Kopf“, weil nicht leicht zu folgen war. Seinen Ruf eines strikten Prüfers bürstete er hin und wieder ­gegen den Strich, wenn er mehr das Potenzial im Prüfling sah als vielleicht Geleistetes. Arroganz und Besserwisserei hat er durchschaut.

Seine Kirche trieb ihn um

Der Sprachkünstler, der Thomas Mann wie einen Otto Reutter zitieren konnte, wurde auch mal nervös, wo er feststellte, dass man sich mit Sprache nicht ganz leicht tat. Die Unbestechlichkeit seines Denkens hat den Unterschied gemacht in den kirchlichen Ausschüssen, Kammern, Gesellschaften, Vereinen, für die er endlos geduldig und treu arbeitete. Die Gemeinde, „Partnerin Gottes in der Welt“, war immer im Blick – wie die Kirche als Ganze, aus der Menschen zwar massenhaft ausgetreten sind, aber nur je als einzelne zurückzugewinnen sein werden, indem ihnen die wahrmachende Klarheit Gottes im eigenen Leben wichtig wird.

Seine Kirche trieb ihn um. Und immer die Frage: Welches Reden von Gott ist in der Welt nötig, um dem Vergessen Gottes zu begegnen? Wir werden jetzt ohne ihn weiter fragen müssen. Der Verlust für die Evangelische Kirche und darüber hinaus tut weh. Wolf Krötke ist schwer erkrankt am 23. Juni 2023 gestorben.