Annette Kurschus – über „Chefinnensache“ gestolpert

Nach nur zwei Jahren im Amt tritt Annette Kurschus als EKD-Ratsvorsitzende und westfälische Präses zurück. Hat sie früh von Ermittlungen gegen einen ehemaligen Kirchenmitarbeiter gewusst?

Annette Kurschus verkündete ihren Rücktritt mit ernster Miene im Bielefelder Landeskirchenamt
Annette Kurschus verkündete ihren Rücktritt mit ernster Miene im Bielefelder Landeskirchenamtepd-bild / Detlef Heese

„Ich werde dieses Thema zur Chefinnensache machen.“ Annette Kurschus legte die Latte hoch, als sie unmittelbar nach ihrer Wahl zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 2021 versprach, dass es fortan bei der Aufarbeitung von Missbrauch in Kirche und Diakonie kein Zögern und keine Rücksichtnahme mehr geben solle. Zwei Jahre später ist die 60-jährige Kurschus von der Spitze der EKD und als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen zurückgetreten. Der Grund: ein Missbrauchsverdacht in ihrem nahen Umfeld, der in ihre Zeit als Pfarrerin und Superintendentin in Siegen zurückreicht. (Einen Liveticker zum Rücktritt lesen Sie hier)

Am Montag sagte Kurschus vor Journalisten in Bielefeld, inzwischen habe die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit „öffentlich eine derartige Eigendynamik entfaltet, dass eine absurde und schädliche Verschiebung eingetreten ist: Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person. Das muss endlich aufhören.“ Sie könne die Ämter einer EKD-Ratsvorsitzenden und einer westfälischen Präses nicht mehr so ausfüllen, wie es ihr selbst am Herzen liegt. Deshalb trete sie mit sofortiger Wirkung von den Ämtern zurück. Sie habe die Aufgaben mit „Leidenschaft und Herzblut“ wahrgenommen.

Vorwürfe werden vor EKD-Synode öffentlich

Vor wenigen Tagen und damit unmittelbar vor der Jahrestagung der EKD-Synode in Ulm waren die Missbrauchsvorwürfe gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein öffentlich geworden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, sieht aber bislang keine strafrechtliche Relevanz, weil die mutmaßlichen Opfer nach derzeitiger Kenntnis zum fraglichen Zeitpunkt volljährig waren und der Fall viele Jahre zurückliege.

In Siegen war Kurschus ab 1993 als Gemeindepfarrerin und später bis 2011 als Superintendentin tätig, bevor sie als Präses an die Spitze der Evangelischen Kirche von Westfalen gewählt wurde. Nach eigener Aussage kennt sie den Beschuldigten sehr gut, die Vorwürfe seien ihr aber erst seit Jahresbeginn durch eine anonyme Strafanzeige bekannt.

Am Dienstag vergangener Woche wies sie während der EKD-Synodentagung einen Bericht der Siegener Zeitung zurück, wonach sie bereits seit mehr als 20 Jahren von den Missbrauchsvorwürfen gewusst habe. In Gesprächen vor vielen Jahren sei zwar die sexuelle Orientierung des Mannes thematisiert worden, „aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt“.

Die Zeitung indes berichtete, Ende der 90er Jahre sei Kurschus von mehreren Personen über die Vorwürfe gegen den Mitarbeiter informiert worden. Zwei Männer, die nach eigener Darstellung an einem Gespräch dazu im Garten von Kurschus teilgenommen haben, hätten das an Eides statt versichert.

Kurschus gewann gerade an Profil

Der Rücktritt als Ratsvorsitzende erfolgte just, als Kurschus nach zwei Jahren im Amt gerade ihr Profil zu finden schien. Ihr Vorgänger Heinrich Bedford-Strohm schien deutlich präsenter, suchte den Weg in die Öffentlichkeit und positionierte sich dort zu Themen wie der Seenotrettung im Mittelmeer, den Wahlerfolgen der AfD und der sozialen Spaltung.

Auch wenn Kurschus diese Positionen teilt, bevorzugte sie die leisen Töne, sah sich eher als Predigerin denn als Talkshow-Gast. Umso bemerkenswerter war es, als sie Ende Oktober in einem Zeitungsinterview sagte, Deutschland könne als „reiches Land“ noch mehr Menschen aufnehmen als bislang, die vor Krieg und Not fliehen. Forderungen nach einer Obergrenze bei der Aufnahme von Menschen kritisierte sie als „populistische Nebelkerze“, die Äußerungen von CDU-Chef Friedrich Merz zu den Zahnbehandlungen für Asylbewerber nannte sie „brandgefährlich“ für die Stimmung im Land.

Missbrauchsbetroffene schätzten Kurschus‘ Arbeit

Und auch beim „Chefinnen-Thema“ schien es nach anfänglichen Schwierigkeiten gut zu laufen. Bei der EKD-Synode in Ulm wurde deutlich, dass die Vertreter der Missbrauchsbetroffenen ihre Mitarbeit im neuen Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt schätzen. Einheitliche Entschädigungsverfahren für Betroffene sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie sollen auf den Weg gebracht werden, die lange geplante gemeinsame Erklärung von Kirche und Diakonie mit der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten Kerstin Claus steht vor der Unterzeichnung

„Ich bin jetzt eigentlich mittendrin und freue mich auf die Aufgaben, die vor mir liegen“, hatte die kinderlose Kurschus, die nicht verheiratet ist, kurz vor ihrem 60. Geburtstag am 14. Februar dem Evangelischen Pressedienst (epd) gesagt. Doch ihr so gerader Aufstieg in der evangelischen Kirche bis zur obersten Repräsentantin der deutschen Protestanten fand nun mit dem Rücktritt ein jähes Ende. Kurschus: „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber getrost und aufrecht.“