Menschenrechtlerin Scherbakowa: „Putin muss an die Wand gedrückt werden“

Irina Scherbakowas Organisation „Memorial“ setzt sich für die Aufarbeitung des Stalinismus ein und gewann den Friedensnobelpreis. Jetzt sind die Mitglieder im niedersächsischen Exil zusammengekommen.

Die russische Historikerin und Germanistin, Irina Scherbakowa, wohnt inzwischen in Berlin
Die russische Historikerin und Germanistin, Irina Scherbakowa, wohnt inzwischen in Berlinepd-bild / Jens Schlueter

Die russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa hat an den Westen appelliert, weiterhin die Ukraine mit allen Kräften zu unterstützen. Dies sei die einzige Perspektive, um einen Frieden im russischen Krieg gegen das osteuropäische Land zu erreichen, sagte Scherbakowa. „Putin muss an die Wand gedrückt werden, dann gibt es eine Chance für das andere Russland“, betonte die inzwischen in Berlin lebende 74-jährige Historikerin und Germanistin. „Sonst hat Russland keine Chance, dass sich irgendetwas verändert.“

Scherbakowa ist Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. „Memorial“ setzte sich seit 1989 für die Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltherrschaft in der früheren Sowjetunion ein. Die Organisation wurde Ende 2021 von den russischen Behörden aufgelöst. Einige unabhängige Einrichtungen des Netzwerks innerhalb und außerhalb Russlands bestehen jedoch weiter. Rund 30 Mitarbeitende des Netzwerks treffen sich zurzeit in der Evangelischen Akademie Loccum bei Hannover zu einer internen Tagung.

Die Historikerin betonte: „Es gibt in der Geschichte Momente, wo man den Frieden nur dann erzwingen kann, wenn man den Feind militärisch stoppt.“ Deutliche Kritik richtete sie an die Adresse der deutschen Friedensbewegung: „Putin und sein Krieg sind mit Friedensbeschwörungen nicht zu stoppen.“ Wer so etwas behaupte, wolle sich mit der Wirklichkeit dieses Krieges nicht auseinandersetzen. „Er beharrt auf alten Modellen, die er im Kopf hat, und nimmt hin, dass Europa sich in absoluter Gefahr befindet.“

Verdrehung der russischen Geschichte

Die in Russland verbliebenen Frauen und Männer von „Memorial“ versuchten, ihre Arbeit trotz aller Probleme fortzuführen, berichtete Scherbakowa. „Aber es wird jeden Tag schwieriger.“ Permanent komme es zu Anklagen oder Verhaftungen. Von den Behörden würden die Mitarbeitenden zu einem „Katz-und-Maus-Spiel“ gezwungen. Glücklicherweise seien 80 Prozent der Archive von „Memorial“ während der Pandemie digitalisiert worden und somit in Sicherheit. Scherbakowa selbst verließ wie viele Mitstreiter ihre Heimat nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine. Heute lebt sie in Berlin.

„Wir würden nicht so im Visier stehen, wenn die Geschichte nicht zum Hauptkern der russischen Propaganda gemacht worden wäre“, sagte die Friedensnobelpreisträgerin. „Verdrehte Mythen“ von einem russischen Imperium sollten in Putins Welt den Krieg in der Ukraine in aggressiver Weise legitimieren. Vor dieser „gefährlichen Mischung“ habe „Memorial“ immer gewarnt. Wenn die Vergangenheit nicht aufgearbeitet werde, entstünden aus ihr neue Auswüchse, betonte die Historikerin.

Nach dem versuchten Marsch der „Wagner“-Truppen von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin auf Moskau werden sich aus Sicht der Menschenrechtlerin die Repressalien in Russland noch weiter verstärken. „Wir sehen, welche Angst man dort oben bekommen hat.“ Die Macht in Moskau sei nicht so gefestigt, wie es scheine. Die Zukunftsperspektive für Russland sei allerdings „so dunkel wie seit hundert Jahren nicht mehr“, sagte Scherbakowa. Sie verglich Putins Regime mit der Mafia. „Europa kann nur demokratisch und frei bleiben, wenn man diesen Gefahren ins Gesicht sieht.“