Mehr Religionsunterricht. Jetzt!

Ethikunterricht vermittelt Wissen über Religionen – die Propaganda fanatischer Gruppierungen zielt aber aufs Herz. Darum: Religionsunterricht als Herzensbildung. Ein Zwischenruf

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Ich glaube nicht mehr daran. Dass der Ethikunterricht, in Flandern auch ‚moraal‘ genannt, ein gleichwertiger Ersatz für den Religionsunterricht ist. Und schuld daran ist Theresa May. Und andere Politiker, auch in Frankreich.
Immer, wenn es wieder einen Anschlag gegeben hat, reagieren sie mit grimmiger Entschlossen-heit und fordern, die westlichen, demokratischen, republikanischen Werte noch entschiedener, noch entschlossener, noch deutlicher zu verteidigen.
Was sie nicht sagen ist, dass die allermeisten Attentäter in Frankreich aus Frankreich und in England aus England kommen. Dass sie dort geboren, dort aufgewachsen und: dort auch beschult worden sind. Da es in Großbritannien keinen Islamunterricht gibt, haben sie wahrscheinlich die dort übliche Religionskunde besucht, d.h. sie wurden über Erscheinungsformen von Religion „informiert“ worden. Dies ist kein Ersatz…“ haben sie gewiss den Ethikunterricht besucht – oder den anglikanischen Religionsunterricht, der dem Ethikunterricht nicht unähnlich ist, da er eine neutrale Religionskunde betreibt, also über Erscheinungsformen von Religion „informiert“. Dies alles ist kein Ersatz für einen richtigen Religionsunterricht. Den Beweis dafür liefern die Attentäter selbst.

Nur Information reicht nicht

Sie zeigen, dass über Werte trefflich doziert, nachgedacht und gesprochen werden kann. Aber dadurch wird noch kein einziger von ihnen verinnerlicht. Die Wertevermittlung erreicht den Intellekt, den Kopf, nicht aber das Herz. Eine echte Herzensbildung erreicht nur die Religion.
Nicht nur mit behaupteten Richtigkeiten, auch mit ihrem Schatz an Symbolen, Bildern und Liedern. Wer einmal das Lied 209 im Evangelischen Gesangbuch mit ganzem Herzen gesungen hat, „Es heißt, dass einer mit mir geht, der’s Leben kennt, der mich versteht, der mich zu allen Zeiten kann geleiten. Sie nennen ihn den Herrn Christ, der durch den Tod gegangen ist; er will durch Leid und Freuden mich geleiten“, der muss sich keinen Bombengürtel bauen und sich mit Angriffen auf „Ungläubige“ ins Paradies sprengen. Der islamistische Terror lässt sich durch militärische und polizeiliche Maßnahmen eindämmen, hier und da auch verhindern, aus der Welt schafften lässt er sich dadurch nicht.
Denn die Propagandisten des IS sprechen Leute auf einer anderen Ebene an. Sie erreichen mit ihren Schwarz-Weiß-Botschaften eine Tiefendimension, an die der Ethikunterricht niemals heranreichen wird. Sie bringen in diesen religiös oft gar nicht verwurzelten Menschen etwas zum Klingen, was ein Gerede über Werte nicht vermag: Sie fügen Menschen, die sich von der Mehrheitsgesellschaft gekränkt und ausgegrenzt fühlen, die über wenig Selbstwertgefühl verfügen, in ein größeres Ganzes ein, in Allahs Plan für diese Welt, in ein Kalifat, das angeblich gerade dabei ist, eine weltumspannende Herrschaft aufzubauen. „Und das gerade dich braucht… Du darfst daran mitbauen, du wirst selber groß, indem du dich an diesem großartigen Projekt beteiligst und am Ende die größte aller denkbaren Belohnungen erhältst…“. Make little people great again.

Ein „Grundgefühl“ kritisch hinterfragen

Als kleiner Mensch in ein Größeres eingefügt zu sein, ist ein religiöses Grundgefühl. Es ist zugegeben auch ein ideologisches Grundgefühl. Aber Religion und Ideologie unterscheiden sich nicht im subjektiven Empfinden, sondern in dem, worauf sie jeweils bezogen sind: auf Gott oder auf einen Abgott. Weil Gott und Abgott nicht immer sauber zu unterscheiden sind, hat die Religion in der Moderne eine kritische Selbstüberprüfung entwickelt: die Religionskritik, die kritische Überprüfung dessen, woran sie glaubt und wem sie sich verschrieben hat.
Das alles ist Gegenstand eines guten Religionsunterrichts. Es geht in ihm um Verwurzelung und um Herzensbildung, es geht aber auch darum, die Fähigkeit zur kritischen Prüfung zu entwickeln. Der Islamismus lässt sich wirksam nur bekämpfen, wenn diese Dinge in einem modernen, eben auch selbstkritischen Islamunterricht vermittelt werden. Flächendeckend, auch in England, auch in Frankreich, das noch immer meint, Religion in den privaten Sektor abschieben zu können. Was dort gärt, im Privaten, an den privaten PCs, in Hinterhofmoscheen und geschlossenen Koranschulen, wird jedoch irgendwann öffentlich wirksam.
Die furchtbarsten Früchte dieser Saat erfüllen Europa mit Trauer und Entsetzen, auch mit Wut und Unverständnis. Es führt zu Aufrufen, die westlichen Werte entschlossener zu verteidigen und nachhaltiger zu vermitteln. Ich aber glaube nicht daran, dass wir besseren Moralunterricht brauchen. Wir brauchen mehr guten Religionsunterricht. Jetzt!

Thorsten Jacobi (52) ist Pfarrer der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde Provinz Antwerpen. Zuvor war er Pfarrer der reformierten Gemeinden in Hohenlimburg und Wiblingwerde im Kirchenkreis Iserlohn.