Matthias Schwarz hilft anderen Betroffenen sexualisierter Gewalt

Matthias Schwarz wurde ab 13 Jahren von seinem Gemeindepfarrer sexuell missbraucht. Heute hilft der Pfarrer anderen Betroffenen. Doch trotz aller Aufarbeitung bleiben offene Wunden.

Matthias Schwarz vom Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt
Matthias Schwarz vom Beteiligungsforum sexualisierte GewaltJulia Stroh

Können Sie darüber sprechen, wie Sie als Jugendlicher missbraucht wurden?
Matthias Schwarz: Ich kann nicht alles beim Namen nennen, denn trotz aller Aufarbeitung bleiben offene Wunden. Der Täter war mein Gemeindepfarrer, sehr anerkannt und geschätzt und für mich als Kind jemand, zu dem ich aufgeschaut habe. Ich habe mich auf den Konfiunterricht gefreut, weil ich die Gemeinde als Ort empfunden habe, wo ich mit dem, was ich im Kopf und im Herzen hatte, einen Platz finden konnte.

Was passierte dann?
Der erste Übergriff ist mir noch sehr, sehr deutlich im Bewusstsein. Der Pfarrer half mir von einer Leiter herunter, und dabei landete seine Hand auf meinem Schoß. Dann stellte er sich dicht vor mich, so dass ich ihm nicht ausweichen konnte, und begann, mich im Intimbereich zu streicheln. Er sagte: „Das fühlt sich ja schon gut an, du wirst wohl langsam zum Mann.“ Ich konnte nichts sagen, mich nicht rühren, stand da wie eine Puppe. Ich war verwirrt und zugleich entsetzt, was seine Berührung in mir auslöste.

Konnten Sie mit jemandem über dieses Erlebnis sprechen?
Nein. In meinem Dorf war Anfang der 1970er Jahre das Thema Sexualität noch tabu. Als ich nach dem Übergriff nach Hause ging, wusste ich: Ich muss das für mich behalten. Niemand wird mir glauben, meine Mutter kann ich damit nicht belasten, und enge Freunde, mit denen ich hätte reden können, hatte ich nicht.

Hat der Pfarrer Sie weiter missbraucht?
Während meiner Konfizeit von 1973-74 kam es immer wieder zu Übergriffen. Ich war häufiger im Gemeindehaus, weil ich in der Jungschar und im Kindergottesdienst mitgearbeitet habe. Manchmal hat er mich da überrascht und befummelt, obwohl schon jemand auf ihn wartete. Er hatte eine Dreistigkeit, der ich einfach nichts entgegensetzen konnte. Auf der Konfi-Freizeit nahm er mich dann mit in sein Zimmer. Über das, was da passiert ist, möchte ich nicht reden. Danach hatte ich das Gefühl, ich hätte jede Kontrolle über mich verloren. Ich fühlte mich total ausgeliefert.

Selbst danach konnten Sie sich niemandem anvertrauen …
Wenn irgendein Mensch dagewesen wäre, der mich behutsam angesprochen hätte – ich glaube, es wäre aus mir herausgeflossen. Aber da war niemand. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht in diese Welt hineingehöre.

Im folgenden Jahr passierten nur noch kleinere Übergriffe. Ich lernte, besser für mich zu sorgen und dem Pfarrer noch gezielter aus dem Weg zu gehen. Irgendwann bin ich ihm wohl schlicht zu alt geworden.

Hat in dieser ganzen Zeit wirklich niemand etwas gemerkt?
Ich glaube, das halbe Dorf wusste es, aber alle haben weggeguckt. Es gab auf jeden Fall auch andere Opfer, aber außer mir hat sich bislang niemand getraut, nach außen zu gehen.

Trotz dieser Missbrauchserfahrungen sind Sie Pfarrer geworden. Wie haben Sie den Missbrauch verarbeiten?
Mein Wunsch, Pfarrer zu werden, war schon vor den Übergriffen da. Die Bibel war mir wichtig, ich hatte gern mit Menschen zu tun und wusste durch mein Engagement in der Gemeinde, dass mir diese Arbeit Spaß macht. Aber natürlich kamen mir durch die schrecklichen Erfahrungen Zweifel. Zum Glück habe ich tolle andere Pfarrer kennengelernt. Und als ich anfing zu studieren, habe ich den Missbrauch in einer Kammer meines Herzens eingeschlossen, den Schlüssel abgezogen und weggeschmissen.

War das auch eine Überlebensstrategie?
Ganz sicher. Ich habe das später auch von anderen Betroffenen gehört. Ich glaube, jede Seele braucht diese Phase des In-sich-Verschließens, in der etwas in einem arbeitet, bis man damit bewusst umgehen kann.

Wie ging es dann weiter?
Ich habe während meines Studiums zum ersten Mal mit einem Pfarrer über meinen Missbrauch gesprochen, aber der war völlig überfordert. Er hat mich gefragt, was ich dazu beigetragen hätte und mich damit vom Opfer zum Mittäter gemacht. Ich bin kein zweites Mal hingegangen. Mir war klar: Das versteht niemand, ich muss allein damit umgehen.

Als Pfarrer habe ich mich im Bereich der Meditation und Körperarbeit weitergebildet und damit gearbeitet. Das hat mir geholfen, einen neuen Bezug zu mir und meinem Körper zu finden. Was ich anderen vermittelt habe, habe ich mir auch selbst gesagt: Du bist ein von Gott angesehener Mensch – darum hat du Ansehen und bist wertgeachtet. So konnte ich schließlich den Schritt nach außen tun.

Was haben Sie dabei erlebt?
Ich habe mich 2010 an die neu eingerichtete Ansprechstelle meiner Kirche gewandt, bin dort jedoch wieder auf Menschen gestoßen, die überfordert waren. Ich wurde nach Zeugen oder Beweisen gefragt – dabei findet sexualisiert Gewalt ja in der Regel in einem Dunkelraum statt, wo niemand hinguckt! Ich habe den Kontakt nicht weiterverfolgt, aber das hat weiter in mir gearbeitet, und 2014 hatte ich einen Zusammenbruch. In einer psychosomatischen Klinik hatte ich dann das Glück, auf einen Therapeuten zu treffen, mit dem ich offen über meine Missbrauchsgeschichte sprechen konnte.

Die Missbrauchsstudie der EKD sollte ursprünglich im Herbst 2023 veröffentlicht werden (Symbolbild)
Die Missbrauchsstudie der EKD sollte ursprünglich im Herbst 2023 veröffentlicht werden (Symbolbild)Imago / Steinach

Hat die Kirche Sie irgendwann unterstützt?
Noch aus der Klinik heraus habe ich wieder Kontakt zu meiner Landeskirche aufgenommen und habe endlich eine Pfarrerin kennengelernt, die mir einfach zugehört hat. Gemeinsam mit einer Juristin haben wir überlegt, ob es sinnvoll ist, meinen Täter zu verklagen. Davon wurde mir aber abgeraten, weil sich die Schuld des Täters meistens nicht zweifelsfrei belegen lässt. Ich wollte mich selbst, meine Familie und meine Gemeinde auch nicht der Gefahr aussetzen, von Anwälten in Frage gestellt zu werden.

Aber Sie haben sich mit Ihrem ehemaligen Pfarrer getroffen.
Ja. Wir hatten diese Gegenüberstellung gut vorbereitet. Als ich in den Raum kam, in dem er schon saß, war mein erster Gedanke: Was für ein kleiner Mann. Als Zwölfjähriger hatte ich ihn als groß und mächtig erlebt – jetzt stand da dieser alte Mann, der sich ohne Ende wand, aber schließlich einen Übergriff aus „pädagogischen Gründen“ zugab. Wir haben dann eine schriftliche Entschuldigung vereinbart, die ich aber nicht akzeptieren konnte, weil keinerlei Einsicht darin zu spüren war.

Wie haben Sie weitergemacht?
Zunächst dachte ich, die Sache sei damit abgeschlossen. Aber als mein Täter 2018 starb, gab es im Internet einen lobenden Nachruf, der mit keinem Wort seine Taten erwähnte. Die Landeskirche hat sich später dafür entschuldigt, aber ich habe gedacht: Es kann doch nicht sein, dass es da noch so viele Lücken und Unwissen gibt. Als dann die Ausschreibung für den Betroffenenbeirat der EKD kam, habe ich mich dort beworben. Vor anderthalb Jahren bekam ich auch einen Vierteldienstauftrag meiner Landeskirche für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, der inzwischen auf eine halbe Stelle erweitert wurde. Zum einen berate und informiere ich auf Pfarrkonferenzen, Fortbildungen oder bei der Ausbildung von Vikarinnen und Vikaren, zum anderen begleite ich andere Betroffene.

Wo stehen Sie jetzt?
In den letzten zwei Jahren, seitdem ich mich öffentlich engagiere, hat sich für mich noch mal einiges geklärt. Ich habe eine größere Selbstsicherheit entwickelt, was mich und meine Geschichte angeht; sie ist kein Fremdkörper, sondern Teil von mir. Und für mich persönlich kann ich sagen: Ich bin gut, so, wie ich bin. Auch mit dieser Geschichte.

Matthias Schwarz ist Beauftragter für die Unterstützung Betroffener bei der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und seit Juli 2022 Mitglied der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der EKD.