Matteo hat Autismus – und gibt sich so normal wie möglich

Wenn sich Matteo entspannen möchte, vertieft er sich in Zeitschriften über Flugzeuge oder schaut sich Youtube-Videos dazu an. Der 17-jährige Kölner hat das Asperger-Syndrom, das soziale Miteinander ermüdet ihn schnell.

Matteo sitzt am Küchentisch, seine dunklen Haare sind verstrubbelt, als wäre er vorhin erst aufgestanden. Über den Küchenboden streicht Kater Findus, Matteo bietet ein Glas Wasser an. Der 17-Jährige hat Autismus, eine milde Form des Asperger-Syndroms. Schon bei der Verabredung am Telefon hat er berichtet, wie sich der Autismus bei ihm auswirkt: Ihm fiele soziale Interaktion schwer, Sarkasmus und Ironie verstehe er nicht, außerdem habe er ein starkes Interesse für Flugzeuge. Im Gespräch möchte er noch mehr erzählen und mit einigen Klischees aufräumen: „Autisten sind nicht automatisch superschlau und soziale Außenseiter.“

Matteo geht in die 10. Klasse eines Gymnasiums und wohnt mit seiner Mutter mitten in Köln. Johanna entschuldigt sich später, dass nicht aufgeräumt sei, und berichtet, dass sie selbst das Gegenteil eines Autisten sei: „Deshalb muss ich mich doppelt disziplinieren, weil für Matteo ein geregelter Tagesablauf sehr wichtig ist“, erklärt sie. So wie seine Mutter versucht, sich Matteos Bedürfnissen anzupassen, passt sich der 17-Jährige ständig seiner Umwelt und seinen Mitmenschen an. „Ich versuche mich in sozialen Situationen so normal wie möglich zu verhalten“, sagt Matteo.

Der Bundesverband Autismus Deutschland geht von 800.000 Menschen in der Bundesrepublik aus, die eine neuronale Entwicklungsstörung aufweisen. Das ist fast ein Mensch von hundert. Sie wirke sich bei den Betroffenen auf die Verarbeitung von Informationen und Wahrnehmungen aus und darauf, wie Menschen mit Autismus sozial interagieren, kommunizieren und sich verhalten. Dennoch gibt es ein breites Spektrum bei den Ausprägungen. „Jeder Autist ist anders“, sagt Alexandra Tolba, die im Vorstand des noch jungen „Verbands Neurodiversität“ sitzt. Es gebe gleichzeitig aber viele Ähnlichkeiten untereinander – etwa die Liebe zur Ordnung und Struktur.

Als Matteo von der Grundschule auf das Gymnasium wechselte, veranstaltete die Klasse einen ganzen Projekttag zu Autismus: Seine Mitschüler versuchten, bei Heavy-Metal-Musik Mathe-Aufgaben zu lösen und mit verbundenen Augen Witz von Ernst zu unterscheiden. Dadurch sollten sie ein Gespür dafür bekommen, wie es ist, mit Autismus zu leben. „Das hat viel Verständnis gebracht, vor allem bei den Mädchen“ erinnert sich Matteos Mutter. Matteo sei daraufhin sogar zum Klassensprecher gewählt worden. „Die Kinder haben gesagt, Matteo ist neutral, nicht in wechselnden Gruppen unterwegs und dass er pragmatisch ist“, erklärt Johanna. „Sie haben seinen Vorteil für das Amt erkannt, das war wirklich toll.“

Später, nach einem Auslandsaufenthalt in Neuseeland, musste Matteo die Schule wechseln, um die 10. Klasse besuchen zu können. Denn seine Rückkehr fiel genau in die Zeit, als Gymnasien wieder von acht auf neun Schuljahre umstellten. In seiner neuen Klasse hat er einen Freund, berichtet Matteo. Sie spielten beide das gleiche Computerspiel und könnten sich darüber unterhalten. „War Thunder“ sei zwar nur „mid“, also mittelmäßig, aber es gebe einige Fahrzeuge darin, die er unfassbar gut fände. Überhaupt interessiert sich der 17-Jährige sehr für Fahrzeuge, vor allem Flugzeuge – etwa aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg. Wenn man ihn nicht unterbricht, würde er vermutlich stundenlang darüber sprechen können. Warum er Kampfflugzeuge so interessant findet? „Da werden die Limits der Technik gepusht“, sagt Matteo.

Matteo weiß unglaublich viel über Flugzeuge, wie er sich mit anderen in seinem Alter verhalten soll, weiß er oft nicht. „Es ist für mich anstrengend. Ich bin in der Schule und in sozialen Situation müde, ich werde schläfrig.“ Seine Mitschüler machten oft Dinge, die er nicht verstehe. „Sie sind aber anscheinend normal in diesem Alter“, sagt er. Seine Klassenkameraden sprächen beispielsweise viel über Geld, wie viel eine Hose oder ein Stift gekostet habe. „Sie sagen, dass wäre eine 10.000-Euro-Jacke, dabei hat sie wahrscheinlich nur 50 gekostet. Ich habe nichts dagegen, es ist nur sehr komisch. Ich verstehe das nicht.“

Der Welt-Autismus-Tag, der jedes Jahr am 2. April begangen wird, steht 2024 unter dem Motto „Nicht unsichtbar“. Es soll darauf aufmerksam machen, wie viele Autisten und Autistinnen sich weiterhin maskieren oder verstecken müssen, um in der Gesellschaft nicht aufzufallen. Auch Matteo kennt dieses Gefühl. Er sagt, er verhalte sich eher wie ein Beobachter, nicht wie jemand, der aktiv an etwas teilnehme. „Ich versuche, zu verstecken, dass ich nicht weiß, worüber sie reden.“ Das soziale Miteinander minimiere er auf das Nötigste mit Menschen, die nicht seine Freunde seien. „Ich versuche, mich normal zu verhalten, kann es aber oft nicht.“

Seine Mutter erklärt, es sei ein Missverständnis, dass viele glaubten, Menschen mit Autismus fühlten nicht. „Sie fühlen eigentlich zu viel, jedes Gefühl ist überwältigend. Deswegen müssen sie es abblocken.“ Für Matteo bedeute jede 5-Minuten-Pause eine Anstrengung. „Es ist, als ob er jeden Tag einen Marathon mit 60-Kilogramm-Rucksack läuft, wenn alle anderen ohne rennen“, sagt sie. Sie sei furchtbar stolz auf ihren Sohn: „Alles, was er kann, ist noch einmal mehr Wert, weil er es mit extra Gegenwind macht.“

In der Grundschule hat Matteo noch Stühle zertrümmert, wenn er in einem Rechen-Wettbewerb nur Zweiter wurde. Ab Klasse 5 stand ihm dann täglich ein Schulbegleiter zur Seite. Zuvor „drohte“ ihm wegen seines Verhaltens die Förderschule, berichtet Johanna – obwohl er schlau und gut in der Schule sei. Der Schulbegleiter habe ihm geholfen, „1a durch die Schule zu marschieren“. Matteo berichtet, er habe sich mit dessen Hilfe besser konzentrieren können, habe aufgeschrieben, welche Hausaufgaben sie aufbekommen. Inzwischen geht der 17-Jährige ohne Schulbegleiter zum Unterricht. „Ich fühle mich jetzt mehr wie ein Jugendlicher, nicht wie ein Kind. Und es hilft auch im Ansehen bei den anderen“, sagt er. Stolz auf sich sei er deswegen aber nicht.

Johanna, seine Mutter, sagt, sie sei dankbar dafür, dass Matteo so ist wie er ist. „Ich wünsche mir auch für ihn mehr Freude darüber, dass er ist, wie er ist.“ Sie hofft, dass sich im Erwachsenenleben Dinge für ihren Sohn vereinfachen. „Es gibt unter Erwachsenen mehr Regeln im Miteinander als unter Kindern“, erklärt sie. Matteo habe schon wahnsinnig viel gelernt, unter anderem auch durch eine Autismus-Therapie. Er sei reflektiert, jede Förderung falle bei ihm auf einen fruchtbaren Boden. Außerdem habe die Familie sehr viel Glück gehabt mit dem ersten Klassenlehrer am Gymnasium sowie mit der Betreuerin im Jugendamt. Das Jugendamt bewilligt und bezahlt zum Beispiel Autismus-Therapien oder einen Schulbegleiter.

Sie hofft, dass in Zukunft die Stärken von Menschen mit Autismus mehr gesehen werden. „Matteo ist es egal, ob ein Mensch weiß, schwarz, grün oder lila ist“, sagt Johanna. Er sei ein unheimlich treuer und ehrlicher Mensch. Auch Alexandra Tolba vom Verband Neurodiversität erklärt, dass Autismus viele Vorteile mit sich bringe. Es sei aber wichtig, dass jedem Einzelnen und seinen Bedürfnissen mit Respekt begegnet werde. „Wir sind halt keine Partymäuse, wir brauchen unsere Ruhe“, sagt Tolba, der erst vor wenigen Jahren selbst ein Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Viele Schulen gingen schon dazu über, für Schüler mit Autismus Rückzugsräume anzubieten. Auch dass manche Supermärkte eine sogenannte Stille Stunde zum Einkaufen anböten, käme Autisten sehr entgegen.

Matteo sagt, er könne mit seinem Autismus leben. Es sei ein Teil seiner Persönlichkeit. Er wünschte sich nur, dass nicht alle Autisten als Genies dargestellt würden. „Man hat schlechtere soziale Fähigkeiten und eine starke Fixierung auf bestimmte Interessen“, erklärt er. Zu heilen gäbe es da nichts.