Margot Käßmann – Vorbild und Reizfigur

Sie hat eine bemerkenswerte Karriere in der Kirche hingelegt, mit allen Höhen und Tiefen. Jetzt ist Margot Käßmann im Ruhestand und siebenfache Großmutter. Am Samstag wird sie 65 Jahre alt.

Im Februar spricht sich Margot Käßmann bei einer Demonstration gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus
Im Februar spricht sich Margot Käßmann bei einer Demonstration gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausImago / Marco John

Da vorn steht sie unter freiem Himmel, in roter Jacke, das Mikrofon in der Hand. Von hinten in der Menge kaum sichtbar, aber weithin hörbar über die Boxen. Mehr als tausend Menschen hat Margot Käßmann als Rednerin wieder einmal in eine Kirche gelockt, hier beim Ostermarsch 2023. Nur dass die Kirche diesmal kein Dach hat. Es ist eine Ruine, die kriegszerstörte Aegidienkirche in Hannover, ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt. Es geht um Waffenlieferungen, die sie als Pazifistin ablehnt, und um einen Krieg, in dem sie für Verhandlungen plädiert.

Es ist wie immer: Wo Käßmann spricht, da strömen die Massen. Viele drängeln sich sogar noch draußen vor den Mauern. Denn Käßmann weiß, wie sie die Menschen erreicht, bringt auf den Punkt, was viele spüren. Am 3. Juni wird die prominente Theologin 65 Jahre alt.

Nicht mehr durchgetaktet

Vor fünf Jahren hat sich Käßmann, die zu den bekanntesten und beliebtesten und zugleich polarisierendsten Personen der evangelischen Kirche gehört, aus dem aktiven Dienst verabschiedet, um in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. „Ich genieße es, nicht mehr so durchgetaktet zu sein, und dass der Druck im Alltag nicht mehr so hoch ist wie früher“, erzählt die frühere Landesbischöfin von Hannover und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Inzwischen ist sie siebenfache Großmutter. Doch nicht nur die Enkel halten sie auf Trab: Durch Medienauftritte und Ehrenämter ist sie in der Öffentlichkeit so präsent wie eh und je.

„Ich habe sehr viel gepredigt in den letzten Jahren, Lesungen und Vorträge gehalten und Bücher geschrieben“, erzählt sie. Allein im vergangenen Jahr hielt sie 25 Gottesdienste. Dabei scheut sie nie das klare Wort, bezieht immer wieder Position – und erntet damit neben Zustimmung auch Widerspruch. So wie im Frühjahr 2023 in der Diskussion um Waffenlieferungen. Von „weltfremd“ bis „Hut ab, Frau Käßmann“ reichten die Reaktionen in den Leserbriefspalten.

Im April 1997 arbeitet Margot Käßmann als Generalsekretärin des Kirchentags, hier in ihrem Büro in Fulda
Im April 1997 arbeitet Margot Käßmann als Generalsekretärin des Kirchentags, hier in ihrem Büro in FuldaImago / epd

Für Auseinandersetzungen hat die Theologin häufig gesorgt. Ihre Neujahrspredigt 2010 mit dem Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ stieß nicht nur eine Debatte um Deutschlands Beteiligung an einem Krieg an. Politiker echauffierten sich über die einfache, aber wirkungsvolle Aussage. „Ich bin in Rechtfertigungsdruck geraten, der mich atemlos gemacht hat“, sagt sie rückblickend.

Geboren 1958 als Tochter eines Kfz-Mechanikers und einer Krankenschwester begann Margot Schulze 1977 ihr Theologiestudium. 1981 heiratete sie Eckhard Käßmann, mit dem sie vier Töchter hat, von dem sie aber inzwischen geschieden ist. Auch er wird Pfarrer – und nur er bekommt eine Stelle, als sie beide ihr Studium abschließen. Käßmann, auch Kämpferin für Gleichberechtigung, wird zunächst nur Pfarrfrau. „Margot fühlt sich unwohl“, berichtet Käßmanns langjähriger Berater Uwe Birnstein in einer Biografie über diese Zeit.

Rücktritt im Februar 2010

Käßmann beginnt eine Dissertation und engagiert sich im Ökumenischen Rat der Kirchen. Anfang der 1990er Jahre wird sie Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Hofgeismar bei Kassel, 1994 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. 1999 wird sie in Hannover zur Bischöfin von Deutschlands größter Landeskirche gewählt. Zehn Jahre später wird sie erste Frau an der Spitze der EKD, bleibt es aber nur für wenige Monate. Nach einer Fahrt unter Alkoholeinfluss tritt sie im Februar 2010 von allen kirchlichen Ämtern zurück.

Doch ihre Glaubwürdigkeit und Beliebtheit scheinen nach dem Fehltritt sogar noch zu steigen. „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand“, verabschiedet sie sich. Wie bereits beim öffentlichen Umgang mit ihrer Brustkrebs-Erkrankung 2006 fliegen ihr Sympathien zu. Käßmann wird zum Vorbild in Geradlinigkeit und Umgang mit Fehlern. 2016 wird sie wegen ihrer Fähigkeit, Menschen zu erreichen, sogar als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt gehandelt. Käßmann lehnt ab und bleibt als Botschafterin des 500. Reformationsjubiläums weiterhin im Dienst der EKD.

Vom 65. Geburtstag an will sie nun kürzertreten. Sie hat Talkshows abgesagt, will Podcasts und ihre Kolumne bei der Bild am Sonntag beenden, Ehrenämter und Predigten zurückfahren. Kritik, Spott und Häme seien nicht spurlos an ihr vorübergegangen, sagt Käßmann, die in Hannover und auf Usedom lebt. Das müsse sie sich nicht mehr antun. Jetzt seien Jüngere dran. Ihrer Rolle als aktive Großmutter will sie allerdings treu bleiben. Das wird der Stoff für ihr nächstes Buch. Der Titel: „Kostbare Zeit“.