Land der Verzweiflung

Manfred Kock sieht kaum noch eine Chance für einen palästinensischen Staat

BIELEFELD – Gut 50 Leute sind da. Das Thema ist heikel, und mit Manfred Kock ein Vortragsredner angekündigt, der in kirchlichen Kreisen noch immer Prominenten-Status genießt. Rund sechs Jahre, von 1997 bis 2003, war Kock leitender Theologe („Präses“) der Evangelischen Kirche im Rheinland, zudem als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auch oberster Repräsentant der evangelischen Christinnen und Christen in Deutschland. Vielleicht denken von denen, die heute Abend gekommen sind, mehrere ähnlich wie die Frau, die ihrem Sitznachbarn zuflüstert: „Als Rentner kann der endlich mal sagen, was er denkt; der muss ja keine diplomatische Rücksicht mehr nehmen.“
Haus der Kirche, Bielefeld. Geladen hat die Bielefelder Nahost-Initiative. Thema: „Land der Verzweiflung – der Nahostkonflikt und kein Ende?“ Bei diesem Stoff kann man’s eigentlich niemandem Recht machen. Auf der einen Seite alle jene, die die Verbundenheit der Christen mit dem älteren Gottesvolk Israel betonen. Auf der anderen Seite jene, die – meist aufgrund persönlicher Kontakte und Besuche im Heiligen Land – betroffen sind von dem Leid und der Ungerechtigkeit, die den Palästinensern widerfahren.
Kock beginnt. Seit vielen Jahren ist er im Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Köln-Bethlehem engagiert, hat hervorragende Kontakte ins Heilige Land, vor allem zu den palästinensischen Christinnen und Christen. Gibt es noch Hoffnung in diesem jahrzehntelangen Konflikt zwischen jüdischer und palästinensischer/arabischer Welt? Es sind keine großen Entwürfe, die der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende anbieten kann. Kock sieht kaum noch eine Chance auf einen eigenständigen palästinensischen Staat, wie ihn die Vereinten Nationen eigentlich vorgesehen haben, neben einem Staat Israel („Zwei-Staaten-Lösung“). Durch jahrelange Siedlungspolitik der israelischen Seite sei das Gebiet der Palästinenser derartig zersplittert, dass praktisch kein palästinensischer Staat mehr möglich sei. Wichtig sei es nun, im Sinne einer pragmatischen Lösung die palästinensische Bevölkerung durch Partnerschaften, Ausbildung und weitere Unterstützung zu fördern, damit sie Kompetenz und Selbstwertgefühl entwickle, um bei einer künftigen Ein-Staaten-Lösung nicht als Prekariat unterzugehen, so Kock.
Auch die evangelische Kirche sei gefragt. Obwohl es dort bereits Engagement gäbe, sieht der heute 81-jährige Kock eine Hürde auf diesem Weg. Sowohl durch die schuldhafte Verstrickung in den Holocaust in Deutschland als auch durch die theologische Betonung der Verbundenheit mit dem Judentum tue sich die Kirche in Deutschland schwer, Solidarität und Einsatz auch für die Palästinenserinnen und Palästinenser zu zeigen. Als Beispiel nannte Kock etwa den Deutschen Evangelischen Kirchentag, bei dem die Parteinahme für Palästinenser ins Randprogramm geschoben werde. Antisemitismus müsse entschieden bekämpft werden. Aber er dürfe nicht als „Totschlagargument gegen jeden Ansatz von Kritik an der aktuellen Politik des Staates Israel“ genutzt werden. Eine rote Linie sei für ihn allerdings dort erreicht, wo die Existenz des Staates Israel in Frage gestellt werde oder antijüdische Stereotypen benutzt würden.
Auch deshalb sei es, so Manfred Kock, eine vordringliche Aufgabe, Kontakte und Partnerschaften herzustellen. Um über beides aufzuklären: den zunehmenden Antisemitismus. Und die erschütternde Lage der Palästinenser. gmh