Kretschmer: Junge Menschen sind Seismografen der Gesellschaft

Am 1. September wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) muss um seine Wiederwahl bangen. Stärkste Kraft bei der Europawahl Anfang Juni und in Umfragen ist die AfD. Im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht Kretschmer über die Spaltung der Gesellschaft, die Befindlichkeiten in Ostdeutschland und die Rolle der Kirchen im Freistaat.

epd: Wie mulmig ist Ihnen nach der Europawahl vom 9. Juni und vor der Landtagswahl am 1. September?

Kretschmer: Die Bevölkerung hat der deutschen Politik am 9. Juni ein sehr deutliches Zeugnis ausgestellt. Sie ist nicht mehr länger bereit zuzuschauen, dass die aus ihrer Sicht drängenden Themen nicht gelöst werden. Das Vertrauen in die Demokratie, den Rechtsstaat und die Parteien schwindet. Viele haben Protest gewählt. Was mich am meisten beunruhigt ist, dass die Bundesregierung dieses Alarmsignal offensichtlich auch weiter ignoriert.

epd: Karten mit dem Wahlergebnis zeigen eine klare Spaltung. Wieso ist dieses Alarmsignal unterschiedlich stark in Ost und West?

Kretschmer: Ich finde die Frage legitim, aber sie lenkt von den eigentlichen Problemen ab. Es ist doch letztlich egal, ob die AfD nun 15 oder 25 Prozent bekommt. Überall in Deutschland ist das Signal eindeutig: ‘Klärt das Thema Migration.’ Oder: ‘Geht anständig mit den Bauern um.’ Oder: ‘Wir wollen nicht in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden’. Der Staat wird von den Menschen als übermäßig bürokratisch und übergriffig wahrgenommen. Es gibt Gründe, warum sich das besonders in Ostdeutschland so stark zeigt. Die Menschen hier haben sich oft unter schwierigen Bedingungen etwas aufgebaut. Sie sind wesentlich sensibler in bestimmten Fragen.

epd: Aber hat sich nicht tatsächlich die Spaltung zwischen Ost und West verschärft?

Kretschmer: Nein. Sicherlich geht der Osten voran. Aber in den westdeutschen Bundesländern erleben wir diese Entwicklungen zeitverzögert genauso. Denken Sie etwa an die Wahlergebnisse zuletzt in Hessen und Bayern. Es sind vor allem die jungen Leute, die wie ein Seismograf der gesellschaftlichen Stimmungen wirken. Junge Leute sind nicht ideologisch. Sie haben klare Sensoren, in Sachen Klimaschutz, aber auch im Hinblick auf die künftige wirtschaftliche Entwicklung.

epd: Wie erklären Sie sich die hohen Zustimmungswerte gerade junger Menschen für die AfD?

Kretschmer: ‘Zu viel, zu schnell und dann noch schlecht gemacht’ – das ist, glaube ich, die Sicht der jungen Menschen auf die Politik der letzten Zeit. Sie haben das Gefühl, dass der Zeitgeist eine Bedrohung wird für ihre Chancen in der Zukunft. Sie suchen wieder Halt und Identität. Wir als Volkspartei sind verpflichtet, an der Lösung dieser Herausforderungen mitzuwirken. Fundamentalopposition würde dem nicht gerecht.

epd: Sie sind bekannt als jemand, der viel das direkte Gespräch mit Leuten sucht. Verfängt das nicht?

Kretschmer: Bei der Europawahl wurde nicht über Sachsen oder über die Kommunalpolitik abgestimmt. Es ging etwa um Migration und den Ukraine-Krieg, da brauchen wir uns nichts vormachen. Die Menschen in Sachsen sehen die Vorteile der EU durchaus. Aber sie sehen auch, dass die EU eigentlich als Friedensmacht gegründet wurde, jetzt aber mitunter auftritt wie eine Kriegspartei. Es gibt zu wenig Bemühungen, etwa den Krieg in der Ukraine zu beenden. Das verstört viele Leute. Generell brauchen wir in Europa eine andere Grundphilosophie: Europa muss ein Ort der Freiheit sein, der einen Rahmen vorgibt, nicht eine Mikrosteuerung wie in den vergangenen Jahren.

epd: Werden die genannten Themen auch die Landtagswahl am 1. September entscheiden?

Kretschmer: Das hoffe ich nicht. Wir kämpfen sehr dafür, dass die Landtagswahl eine Sachsen-Wahl wird. Aber natürlich wird vieles überlagert von den genannten Themen. Die müssen gelöst werden, vor allem auf Bundesebene. Sonst sehen wir am 1. September ähnliche Ergebnisse wie jetzt bei der Europawahl.

epd: Anderes Thema: Wie beheimatet fühlen Sie sich noch in der evangelischen Kirche?

Kretschmer: Ich bin sehr verwurzelt in meiner Kirchengemeinde. Und ich erlebe die Bischöfe in Sachsen und auch in Berlin, wo meine Landeskirche der schlesischen Oberlausitz sitzt, als sehr beeindruckende Persönlichkeiten. Sie schaffen es mit eigener Sprache und eigenem Stil, Menschen zu faszinieren. Ich glaube, mit so einem lebensbejahenden und offenen Ton können auch wieder mehr Menschen für die Kirche begeistert werden.

epd: Aber viele Menschen kehren der Kirche den Rücken, sowohl evangelische als auch katholische Kirche erleiden massive Mitgliederverluste. Was läuft da schief?

Kretschmer: Kirche sollte nicht zuallererst auf die Mitgliederzahlen schauen. Entscheidend ist letztlich der Wunsch von Menschen nach Spiritualität und einem Ort, an dem sie ihren Glauben leben können. Das wird mal mehr, mal weniger Menschen ansprechen. Und es gibt ehrlich gesagt aus meiner Perspektive wenig Möglichkeiten, das direkt zu beeinflussen. In Sachsen haben wir uns sehr für konfessionelle Schulen, Kindergärten oder den Religionsunterricht eingesetzt. Aber gebraucht werden eben auch Kirchenvertreter mit Elan und positiver Ausstrahlung, die andere Menschen mitreißen. Und natürlich Menschen, die Traditionen in der Kirche und Offenheit für Neues klug verbinden können.

epd: Ist die Kirche selbst offen genug, auf Menschen zuzugehen und auch mal neue Wege zu gehen?

Kretschmer: Kirche lebt von Christen, die sich engagieren und etwas bewegen wollen. Aus meiner Sicht täte es der Kirche gut, wenn sich ihre Institutionen und Verwaltungsapparate gelegentlich etwas zurücknehmen würden. Die Leute sollten vor Ort ihre Dinge selbst in die Hand nehmen. Das erlebt man etwa bei den Freikirchen, da ist jeder gefordert und jeder muss mitmachen.

epd: Es gibt Kirchenvertreter, die viel Leid verursacht haben. Wie nehmen Sie die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs wahr?

Kretschmer: Mir scheint das ein sehr langer und langwieriger Prozess zu sein. Am Ende braucht es aus meiner Sicht Versöhnung. Aber dafür muss es zunächst das Bekenntnis und den Wunsch nach Entschuldigung geben. Es muss Entschuldigungen und Entschädigungen geben. Es gab eine Minderheit von Tätern, aber eine große Zahl an Mitwissenden. Erst wenn das klar und offen ausgesprochen ist, kann es nach meiner Überzeugung wieder nach vorn gehen.

epd: Noch mal Themenwechsel: Der Strukturwandel in der Lausitz ist eine Herausforderung über Jahre und sogar Jahrzehnte. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie?

Kretschmer: Wir wollen erreichen, dass mit dem Ende der Braunkohleverstromung die Region wirtschaftlich genauso stark ist wie vorher. Dazu braucht es tarifgebundene Arbeitsplätze und eine große Wertschöpfung in der Region. Diese Regionen müssen ihre Wirtschaftskraft behalten. Wenn es exzellente Wissenschaftseinrichtungen gibt, wird dort nach zehn bis 15 Jahren etwas blühen, das hat immer funktioniert. Wir haben daher in der Lausitz jetzt zwei Großforschungszentren mit internationaler Strahlkraft etabliert. Denn wir müssen Gründe dafür schaffen, dass Menschen aus der ganzen Welt nach Görlitz oder Bautzen kommen wollen. Und wir sind am Thema Infrastruktur dran. Wichtig ist die vom Bund zugesagte ICE-Verbindung von Berlin über Cottbus nach Görlitz. Zudem werden Projekte auf kommunaler Ebene gefördert.