Kirchenkrise: Warum die Gemeinde Graal-Müritz dicht macht

„Kirche geschlossen“, heißt es in Graal-Müritz bei Rostock. Gottesdienste fallen aus, der Kirchengemeinderat macht Pause – aus Protest und Erschöpfung. Ein einmaliger Fall in der Nordkirche.

Ein Bild aus anderen Zeiten: Gespräche vor der offenen Tür der Kirche Graal-Müritz.
Ein Bild aus anderen Zeiten: Gespräche vor der offenen Tür der Kirche Graal-Müritz.Marion Wulf-Nixdorf

Seit Jahrhunderten lädt die Kirche Graal-Müritz in Mecklenburg-Vorpommern sonntags zum Gottesdienst ein, jetzt prangt an ihrem Portal nur ein laminierter Zettel: „Die Lukaskirche ist ab dem 4.1.2024 geschlossen“, verkündet der Kirchengemeinderat allen Besuchenden. Es fänden „bis auf weiteres keine Gottesdienste statt“ – außer am 21. Januar mit einem Prädikanten im Gemeindehaus Pniel. Man bitte um Verständnis.

Als Begründung erklären die Verfasser auch auf der Homepage ihrer Gemeinde: Ihnen sei zu Beginn des neuen Jahres klar geworden, „dass wir nicht mehr so weiter machen können und wollen, wie bisher.“ Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD habe gezeigt, dass 80 Prozent der Evangelischen grundlegende Änderungen in ihrer Kirche für nötig hielten. Und der neue Stellenplan des Mecklenburgischen Kirchenkreis, der ab 2026 den Abbau weiterer Pfarrstellen mit sich bringen wird, verlange, dass sich die Gemeinde Graal-Müritz völlig neu organisiere und strukturiere.

„Hamsterrad der Anforderungen“ in Graal-Müritz

All das scheint in Graal-Müritz Frust und Gefühle der Überforderung ausgelöst zu haben. „Wir wünschen uns und brauchen die Aussicht auf eine andere Zukunft, in der wir frei und fröhlich das Evangelium in die Welt bringen können und nicht immerzu im Hamsterrad der Anforderungen strampeln“, heißt es auf dem Zettel. Gemeindepastorin Katharina Gladisch sei angeschlagen und krankgeschrieben. Auch der Kirchengemeinderat, das Leitungsgremium der Gemeinde, fühle sich erschöpft und „irgendwie krank“. Deshalb lege man bis auf weiteres die Arbeit nieder.

Mit diesem Aushang verkündet die Gemeinde ihre Auszeit
Mit diesem Aushang verkündet die Gemeinde ihre AuszeitPrivat

Weiterlaufen soll aus dem Gemeindeleben in Graal-Müritz nur das, was im Gemeindehaus in Eigenregie stattfindet. „Kasualien wie Beerdigungen, Taufen und Trauungen übernimmt Pastor Stefan Haack aus Blankenhagen als Vertretungspastor“, erklärt zudem Carola Nickel, die als Gemeindesekretärin im Pfarrverbund die Stellung hält.

Der Kirchengemeinderat versteht seine Pause nicht nur als Protest, sondern auch als eine Auszeit zum Erholen und Orientieren. „Gemeinsam werden wir uns die Zeit nehmen, eine neue Jahresplanung zu überdenken und zu überlegen, welche Weichen wir ganz grundsätzlich in unserer Gemeinde stellen können“, heißt es in der Erklärung. „Wir wollen Kraft tanken und uns für die Zukunft stärken.“

Eine Auszeit in dieser Form – mit Pause der Kirchenältesten und Gottesdienst-Ausfall –  scheint einmalig zu sein in der Nordkirche. Pressesprecher Dieter Schulz jedenfalls sagt: „Ich weiß von keinem einzigen ähnlichen Fall.“

Eine Auszeit gab es auch in Waren – aber mit Gottesdiensten

Propst Dirk Fey, in dessen Propstei die Gemeinde liegt, erklärt: Eine längere Auszeit habe sich auch die Kirchengemeinde Waren schon mal genommen – aber anders gefüllt. „Konkret hatte die Gemeinde Gottesdienste gefeiert, aber zahlreiche andere Aktivitäten ruhen lassen, um Inspiration und neue Kräfte zu sammeln.“ Das sei damals gut angekommen.

„Grundsätzlich bin ich als zuständiger Propst froh und dankbar, das sich eine Kirchengemeinde neu orientieren möchte“, stellt er klar. Zu einer solchen Auszeit würden aber Gottesdienste und Andachten gehören. Zudem müssten Gemeindeglieder, Mitarbeitende und die Öffentlichkeit mitgenommen werden. Ob dies im Fall von Graal-Müritz gelungen sei, „kann ich schlussendlich noch nicht beantworten.“ Er selbst will mit den Verantwortlichen möglichst bald weitere Gespräche führen, im Februar mit der Gemeinde auch einen Gottesdienst feiern.

Dass die Graal-Müritzer durch den Stellenplan, der 2026 in Kraft treten soll, vor „großen Herausforderungen“ stehen, ebenso wie viele andere Gemeinden, gibt Propst Fey zu. Gemeindegliederzahlen und damit auch Finanzmittel in der Nordkirche sänken, daher seien „vor allem die personellen Ressourcen im Blick auf Pastorinnen und Pastoren dünner gesät“ und müssten solidarisch in der Nordkirche verteilt werden. Alle Kirchengemeinden stünden vor der Aufgabe, sich künftig in größeren Einheiten und kooperativen Räumen als christliche Gemeinde zu verstehen, sagt er. „Dies ist ein schmerzhafter und hoffnungsvoller Prozess gleichermaßen.“

KGR-Mitglied beschimpft Nordkirche

Vertretungspastor Haack hat auf eine Mailanfrage noch nicht reagiert. Und Katharina Gladisch ist als Krankgeschriebene nicht im Dienst. Ein anderer aus der Gemeinde hat sich dagegen schon vor Wochen umso lauter geäußert: KGR-Mitglied Titus Schlagowksy, der früher als Laienprediger in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) gearbeitet hat – bis die Landeskirche im September 2022 seine Prädikantenbeauftragung Medienberichten zufolge auslaufen ließ, weil er mit seinen Andachten viele Verwerfungen ausgelöst habe.

In einer polemischen Videobotschaft, in der sich Schlagowsky im Kollar an einem Schreibtisch zeigt, deutet er schon kurz vor dem 1. Advent 2023 den geplanten KGR-Streik in Graal-Müritz an, wettert gegen Zustände in der Nordkirche und beschimpft einen Teil der Leitenden und Mitarbeitenden. Die Nordkirche habe „selbstherrliche Strukturen“ – dieser Vorwurf gehört noch zu den harmloseren. Sie verheize und verschleiße die „guten“ Pastoren, Diakone und Ehrenamtlichen, behauptet er außerdem, und beschäftige zu viele „faule“ Menschen. Es gipfelt in Sätzen wie: „Ihr seid nicht mehr ganz dicht.“

„Auf diesen Tonfall gehen wir nicht ein“

Ein Video, in dem sich berechtigte Kritik versteckt? Nein, sagt Nordkirchensprecher Dieter Schulz: „Die von Herrn Schlagowsky geäußerten pauschalisierenden und diskreditierenden Vorwürfe gegen Mitarbeitende der Nordkirche weisen wir zurück.“ Der Mecklenburgische Kirchenkreissprecher Christian Meyer erklärt: „Auf ein Video in diesem Tonfall gehen wir nicht ein.“

Wie der restliche Kirchengemeinderat Graal-Müritz zu der Videobotschaft steht, ist unklar. Eine Distanzierung  auf der Internetseite ist bislang nicht zu finden. Über das Gemeindebüro hat unsere Redaktion dem Vorsitzenden des KGR die Bitte um ein Gespräch ausrichten lassen – bisher ohne Erfolg.