Israel feiert 75 Jahre

Im Jahr 1948 wurde der Staat Israel gegründet, am 26. April feierte das Land 75 Jahre Unabhängigkeit. Aber der Staat war zum Zeitpunkt seiner Gründung umstritten und ist es bis heute.

Proklamation der Unabhängigkeit des Staates Israel durch David Ben-Gurion (Mitte) am 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv. Ben-Gurion wurde im Februar 1949 zum ersten Premierminister des Staates Israel ernannt.
Proklamation der Unabhängigkeit des Staates Israel durch David Ben-Gurion (Mitte) am 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv. Ben-Gurion wurde im Februar 1949 zum ersten Premierminister des Staates Israel ernannt.epd/akg-images

Am 5. Iyar 5783 feierte der Staat ­Israel seinen 75. Geburtstag. Der Tag der Staatsgründung fiel im Jahr 1948 auf den 14. Mai, in diesem Jahr auf den 26. April des gregorianischen Kalenders. „Nach all den Jahren ist eins noch nicht erreicht worden: … die Selbstverständlichkeit des Judenstaates inmitten des Orients“, schrieb der Judaist und evangelische Theologe Michael Krupp 1992 in seinem Buch „Zionismus und Staat Israel – ein geschichtlicher Abriss“. Und der Satz gilt auch noch 30 Jahre später. Der Staat Israel war zum Zeitpunkt seiner Entstehung umstritten und ist es bis heute.

Was sollte auch selbstverständlich sein am Staat Israel? Er wurde verfasst als jüdisches Gemeinwesen, in dessen Gründungsurkunde festgeschrieben ist, dass „allen seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgt“ ist. Er wurde gegründet in einem Land, das für viele Menschen mit religiöser Begabung ein Sehnsuchtsort ist: Jahr für Jahr ­pilgern Menschen zur Auferstehungskirche, zum Tempelberg, zur Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und zu den Hängenden Gärten in Haifa, einem Weltzentrum der Bahai, und verinnerlichen durch ihre religiösen Riten und Texte die Geografie dieses Landes. Der Staat Israel ist ­Heimat für ein Volk, das seit 2000 Jahren Menschen ­irritiert, weil es anders ist oder als anders wahrgenommen wird: eine Nation, von Gott dem Schöpfer ­erwählt und von den Menschen ­geliebt, gehasst und verfolgt – und also von seinem Gott und den ­anderen Völkern selten in Ruhe ­gelassen.

Nation mit besonderer Identität

Als Israel 1949 seinen ersten ­Unabhängigkeitstag feierlich in Tel Aviv begehen wollte, endete dieses Vorhaben im Chaos. Die Haupt­straße, die für eine Militärparade vorgesehen war, war nicht für den Verkehr gesperrt worden oder die Autofahrer hatten die Absperrungen umfahren – keiner wusste es am Ende genau. Die Ehrengäste ­fanden keinen Platz auf der Ehrentribüne, es kam zu Handgreiflichkeiten; die Stadt war überfüllt, das Gedränge in den Straßen nahm bedrohliche Ausmaße an. Die Festlichkeiten wurden schließlich abgesagt.

Azriel Karlebach, Herausgeber der israelischen Tageszeitung Ma’ariv, erklärte am folgenden Tag seinen Leser*innen in einem Artikel dieses Scheitern mit der besonderen Identität einer Nation. Sie wünsche sich so sehr eine gemeinsame Stärke, dass sie eben deshalb ­daran scheitere, diese Stärke und Gemeinschaft sich selbst und der Welt auch zu zeigen. „In Hitler-Deutschland wäre so etwas nicht möglich gewesen, und vielleicht war es das wichtigste Merkmal dieses Tages, dass das Volk und nicht die Armee die Straßen eingenommen hat“, schrieb er in dem Artikel der Ma’ariv. Der Hinweis auf „Hitler-Deutschland“ ist doppel­sinnig: Ein solches Chaos bei einem Staatsakt und einer Militärparade scheint ­unvorstellbar in der NS-Diktatur. Und doch ist dieses wohlorganisierte „Tausendjährige Reich“ vergangen – der Staat Israel hin­gegen ­feierte seinen ersten Geburtstag.

Verändertes Selbstverständnis

Sechs Millionen Juden waren in Europa durch die Nationalsozialisten ermordet worden. Die Erinnerung an die Shoah prägte den Staat Israel. Dieses unvorstellbare Verbrechen, das auch Folge des christlichen Anti­judaismus war, und die Schaffung eines jüdischen Staates veränderten die interreligiöse ­Beziehung und das jüdische und christliche Selbstverständnis.

Aufziehen der israelischen Staatsflagge am Fahnenmast zur Gründung des Staates Israel am 14.Mai 1948
Aufziehen der israelischen Staatsflagge am Fahnenmast zur Gründung des Staates Israel am 14.Mai 1948akg-images

Auch für die islamische „Umma“, die islamische Gemeinschaft, ­bedeutete die Entstehung des Staates Israel einen geopolitischen Einschnitt und führte zu einer neuen und politisierten religiösen Bewertung des Judentums. Für die christlichen und muslimischen Palästinenser*innen wiederum führte die Staatsgründung und der anschließende Krieg zwischen Ägypten, ­Syrien, Libanon, Jordanien, dem Irak und Israel zur sogenannten „Nakba“, der Katastrophe: 750000 Menschen flohen vor der Gewalt aus ihrer Heimat oder wurden ­gezielt von israelischen Soldaten vertrieben; viele Zivilisten wurden getötet. Bis heute tragen die Gesellschaften Israels und Palästinas schwer an dieser Hypothek der sich über­lagernden Erinnerungen an Gewalt und Unrecht.

Ein Asyl, das verteidigt werden muss

Von den Religionsgemeinschaften, die sich auf Gottes Offenbarung an Abraham und Sarah und an die ­Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten berufen, bildet die „große Schwester“ des Judentums heute die kleinste Gemeinde. Geschätzt wird, dass heute ungefähr 32 Prozent der Menschheit einer christ­lichen Konfession, 24 Prozent dem ­Islam und 0,2 Prozent dem Judentum angehören. In den meisten Weltgegenden bilden Juden eine verschwindend kleine Gemeinde oder existieren nicht mehr. 80 Prozent aller Juden leben in den USA oder in Israel. Angesichts dieser Zahlen und angesichts des weltweiten Antisemitismus bedeutet die Existenz des Staates Israel für Juden weltweit die Option eines Asyls, das verteidigt werden muss.

Israel will Staat für alle seine Bürger sein

Dieser Staat folgt, wie alle anderen auch, den Bedingungen von Macht, Ökonomie und internationaler Diplomatie. Er ist als parlamentarische Demokratie organisiert und auf internationale Beziehungen angewiesen. Mit seinem Namen „Israel“ stellt sich jedoch dieses politische Gemeinwesen in die Tradition des Volkes, dessen ­Ursprung biblisch bezeugt wird und das nach dem eigenen Selbstverständnis den Schöpfer der Welt zur Hebamme hat, und doch Staat für alle seine Bürger sein will.

In Israels Unabhängigkeitserklärung heißt es: „Im Land Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig. Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der ­Bücher. Er wird allen seinen Bürgern ohne Unterschied von religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.“ David Ben-Gurion, Israels erster Ministerpräsident, verlas sie am 14. Mai 1948. Damit war der Grundstein eines politischen Gemeinwesens für ein biblisches Volk in einem verheißenen Land gelegt.

Zeichen der Treue Gottes

Die Gründung des Staates Israel, erklärte die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland in ­einem wegweisenden Beschluss von 1980, sei auch ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk. Diese Treue Gottes ist nicht gebunden an die ­demokratische Legitimation der ­israelischen Regierung oder an die Erfüllung menschlicher Vorstellung von Wohlfahrt. Das bedeutet in der Konsequenz wiederum keine politische Nibelungentreue der Christen zur israelischen Regierung, etwa die Zustimmung zur völkerrechtlich nicht anerkannten Besatzung der Westbank oder zur Einschränkung der Grundrechte der Palästinenser. Und viele von uns Christen, die in Palästina leben, beziehen dagegen ja auch Stellung und engagieren sich für ein Leben in Frieden und ­Sicherheit. Wir Christen sind nicht die Getreuen Israels, sondern als Glaubensgeschwister auf die ­Erwählung dieses Volkes verwiesen und in die Geschichte Israels ­verwoben.

Der Staat Israel ist ein Staat wie jeder andere. Er hat für uns keine Vorbildfunktion, noch können wir von seiner Regierung oder seinen Bürgern Besseres erwarten als von den Regierungen oder Bürgern ­anderer Länder. Wir können ihm zum 75. Jahrestag seines Bestehens ­gratulieren, wie jedem anderen Land auch, und den Menschen ­dieses Landes – arabischen und ­jüdischen Israelis, Israelis und ­Palästinensern – von Herzen wünschen, dass in 75 Jahren mehr Recht und Friede, mehr Sicherheit und Wohlstand herrsche.

Kein Staat wie jeder andere

Einerseits. Andererseits stimmt auch das Gegenteil: Israel ist kein Staat wie jeder andere. Er ist in ­unserer Zeit Garant und Ausdruck jüdischer Existenz. Für uns Christen ist die Erwählung und die Existenz des Volkes Israel oft genug Stein des Anstoßes gewesen und ist zugleich sichtbarer Grund unseres Seins. Wir sind durch Christus nicht in irgendeine menschliche Gemeinschaft mit hineingenommen, sondern eben in diesen Bund, den Gott lange vor der Geburt Jesu mit dem Volk Israel ­geschlossen hat.

Der Staat Israel hat heute eine wichtige Bedeutung für die Existenz der jüdischen Gemeinden in aller Welt. Das macht Israel nicht zu ­einem besseren, schlechteren oder per se „heiligen Land“ – aber zu ­einem Staat, der uns Christen ­angeht.