In guter Verfassung: 75 Jahre deutsches Grundgesetz

Vor 75 Jahren erhielt Deutschland von den West-Alliierten den Auftrag, sich eine neue Verfassung zu geben. Das Echo war eher mau, trotzdem startete die Ausarbeitung mit einem Festakt.

Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erarbeitet
Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erarbeitetImago / epd

An einem heißen Sommertag in Bonn schlurft eine Gruppe Jugendlicher durch ein nüchternes Gebäude am Rhein. „Dass das historisch ist, ist schon krass“, sagt ein Junge mit schwarzem T-Shirt und weißen Turnschuhen. Der „krasse“ historische Ort ist das Haus, in dem das deutsche Grundgesetz geschrieben wurde. Das Gebäude im Bauhaus-Stil diente vor dem Zweiten Weltkrieg als Pädagogische Akademie. Vor 75 Jahren kam dort der sogenannte Parlamentarische Rat unter. Dessen Auftrag: Deutschland eine ordentliche Verfassung zu geben.

„Welches waren die vier Besatzungsmächte?“, fragt Thomas Schlinkmann die Schüler. Er begleitet regelmäßig Besuchergruppen durch die baulichen Zeugnisse einer Zeit, in der Bonn für die Bundespolitik eine wichtige Rolle spielte. Keiner der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler meldet sich. Von hinten kommt die Lehrerstimme: „Na kommt, ihr habt’s doch gerade gelernt.“ Zögerlich gehen ein paar Hände nach oben, und es fallen die Ländernamen Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien. Die drei westlichen Mächte drängten 1948 auf die Gründung eines westdeutschen Staates. Die Entwicklung des Kalten Krieges hatte damals die Hoffnung gedämpft, dass es zu einer Staatsbildung inklusive der sowjetischen Besatzungszone kommen könnte.

Auftrag einer freien und demokratischen Regierungsform

Also ging von den West-Alliierten der Auftrag an die damals elf deutschen Bundesländer, in einer verfassungsgebenden Versammlung einen westdeutschen Staat mit „einer freien und demokratischen Regierungsform“ vorzubereiten. Sie gestanden also dem deutschen Volk als Kriegsverlierer schrittweise eine eigene Regierungsverantwortung zu, bereiteten damit aber letztlich den Weg hin zur deutschen Teilung.

Die Ministerpräsidenten waren davon nicht begeistert und wollten den provisorischen Charakter dieser neuen Organisationseinheit betonen. Man einigte sich darauf, die Verfassung nicht als solche zu bezeichnen, sondern ein „Grundgesetz“ auszuarbeiten. Regelungen, die Westdeutschland als vollwertigen Nationalstaat hätten ausweisen können, vermieden die Politiker mit Blick auf Ostdeutschland.

So tagte vom 10. bis zum 23. August 1948 zunächst ein Verfassungskonvent auf Schloss Herrenchiemsee. Vor allem Sachverständige waren es, die dort die verfassungsgebende Versammlung vorbereiteten und die am 13. August entschieden, dass der Parlamentarische Rat in Bonn tagen soll.

Festakt zum Auftakt eines neuen Grundgesetzes

Mit einem Festakt begannen hier wenige Tage später – am 1. September 1948 – die Arbeiten zum Grundgesetz der Bundesrepublik. 61 Herren und 4 Damen, allesamt Mitglieder der Landesparlamente, waren damit betraut. Entsandt nach Fraktionsstärke der Landesparlamente, ergab es sich zufällig, dass CDU/CSU und SPD jeweils 27 Mitglieder stellten. Die FDP gestaltete mit fünf Männern die neue Verfassung. Die Deutsche Partei (DP), die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und die Zentrumspartei schickten jeweils zwei Mitglieder.

Beim Festakt mit dabei waren nicht nur die Politiker, sondern auch zahlreiche Tiere – in ausgestopfter Form. Denn für den Auftakt des Parlamentarischen Rats bot der Lichthof des benachbarten Zoologischen Museums Koenig den Rahmen. Die Tiere wurden mit Vorhängen versteckt, dennoch haben einige Dauerbewohner des Museums einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Unter den Bären, Schimpansen, Gorillas und anderen Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor“, wird SPD-Politiker Carlo Schmid zitiert.

Auch dabei: ein ausgestopfter Säbelschnäbler auf der Museumsgalerie. Die tatsächliche Arbeit am neuen Grundgesetz fand dann in der Parlamentarischen Akademie statt, in der der Säbelschnäbler heute in der begleitenden Ausstellung „Unser Grundgesetz“ Besuchergruppen wie die Klasse aus dem baden-württembergischen Philippsburg begrüßt.

Stadt Bonn ist Wiege der neuen Verfassung

„Im Alltag denkt man nicht so über das Grundgesetz nach, wir kennen ja nichts anderes“, sagt ein Schüler. „Das hier vor sich zu haben, den Raum zu sehen, das macht es greifbarer.“ Der Saal, damals Aula der Akademie, steht heute unter Ensembleschutz. „Die Schüler verhalten sich am historischen Ort hier disziplinierter, man merkt eine Ehrfurcht“, sagt Gruppenbegleiter Schlinkmann aus seiner Erfahrung. Das nutzt er, um das Grundgesetz etwas nahbarer zu machen – zum Beispiel die Grund- und Menschenrechte.

Die Klasse, die in Bonn unter dem Thema „Demokratiebildung“ unterwegs ist, zieht von der Wiege des Grundgesetzes weiter zum Haus der Geschichte, vorbei an einem Hotelhochhaus, einem Kongresszentrum und einem Variete-Theater. Vor 75 Jahren wuchsen hier noch Stangenbohnen und Kartoffeln. Konrad Adenauer, Carlo Schmid und Theodor Heuss gingen an Schrebergärten vorbei, um über das Grundgesetz zu beraten.

Knapp neun Monate nach der Eröffnung wird Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates sagen: „Heute, am 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes.“ Das Grundgesetz ist unterzeichnet, die Bundesrepublik Deutschland begründet und Bonn als Gastgeberin des Parlamentarischen Rats wird wenig später neue Hauptstadt. Und die Räume, in denen das Grundgesetz geboren wurde, beherbergt jahrzehntelang die Vertretung der Bundesländer bei der Gesetzgebung, den Bundesrat.