Im Gebet liegt Kraft

Wie Gebete uns Kraft geben und uns verändern

Im Gebet liegt Kraft

Beten macht achtsam für das Machbare und verändert uns

Von Thomas Jeutner

Die Leute sind eben noch spazieren gegangen, und bleiben stehen. Sie stellen sich zu den anderen, die stehen geblieben sind, an der Bernauer Straße in Berlin-Mitte. Es ist ein Samstag. Ein öffentliches Friedensgebet unter freiem Himmel, mittags um zwölf. Seit Jahren wird zu dieser Zeit in der Kapelle der Versöhnung ein Mittagsgebet gehalten. Dazu ­trafen sich hier, in dem kleinen Gotteshaus aus Lehm am Erinnerungsort der deutschen Teilung, immer acht bis zehn Leute. Unter dem ­Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine kommen viel mehr.

Manche sagen: „Wir gehen extra hierher, zur Berliner Mauer.“ Sie schauen sich nicht nur die Gedenkstätte an. Sondern sind sich der ­Parallelen bewusst. Die Grenze ­zwischen Ost und West hatte sich jahrzehntelang eingeschnitten in das Herz der Stadt. Sie trennte Straßen und Stadtteile, Familien und Freunde. Der befriedet geglaubte Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist nun in der Ukraine blutig wieder aufgebrochen. Wieder geht es um Grenzen. Und darum, wie ­militärische Bedrohung empfunden wird. Die maßlose Gewalt, mit der russische Truppen die Grenzen des ukrainischen Nachbarlandes ver­letzen und überschreiten, kostete Zehntausende Menschen das Leben. Auf beiden Seiten.

Yevgenia ist jetzt in Kiew

So wandern meine bedrückten Gedanken, als ich hier mit den anderen im Freien an der Kapelle stehe. Ich denke an meine Nachbarin Yevgenia, die in Berlin lebt und in Kiew – wo sie auch jetzt ist. Seit ­November habe ich sie nicht mehr gesehen. Weil sie sich um ihre alten Eltern kümmert, die nicht mehr ­fliehen können, ist auch sie in der umkämpften Stadt geblieben. Den Schlüssel zu ihrer Wohnung gab sie mir in Verwahrung.

Ich höre jetzt Klänge aus dem Inneren der Kirche, mit Lautsprechern werden sie nach draußen zum Friedensgebet übertragen. Die Organistin musiziert ein russisches Volkslied, gespielt auf dem Bajan. Es ist ein besonderes Register, das genau so klingt und gespielt wird wie ein ­osteuropäisches Knopfakkordeon.

Wie jeden Samstag wird hier an der Kapelle das Versöhnungsgebet von Coventry gesprochen. Die sieben Bitten der Litanei werden abwechselnd in drei Sprachen gelesen. ­Zuerst Ukrainisch. Dann Russisch, zuletzt Deutsch. Ergreifend für mich ist schon der Vorspruch, von diesem jahrzehntealten Text. Da heißt es: „Wir alle sind schuldig geworden. Und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten.“

Vater vergib

Der Satz bringt mich zum Inne­halten. In unserer Zeit politischer Schuldzuweisungen im Blick auf den Krieg lässt er Fragen zu. Danach, was auch unser Land seit dem Sturz der Mauer versäumt hat. Worin haben wir nach dem Ende des Kalten Krieges mehr investiert? In ent­gegengebrachtes Vertrauen oder in unseren eigenen wirtschaftlichen Vorteil? Jede Bitte der weltweit gesprochenen Versöhnungslitanei endet mit dem Wunsch an Gott, ­Vergebung erfahren zu dürfen. Das klingt berührend in den drei Sprachen: „????, ?????? ???“. „????, ?????? ???“. „Vater, vergib“.

„Welchen Sinn hat denn so ein Friedensgebet“, hat mich eine Freundin gefragt. Und meinte weiter, „zu welchem Gott beten wir denn, wenn wir um Frieden bitten?“

Sie hat recht. Unser Gebet wird nicht die Welt verändern. Aber die Haltung des Betens wird uns verändern. Gott braucht nicht unser Gebet. Aber wir brauchen es. Weil es uns achtsam macht für das Machbare, dort wo wir leben. Kraft liegt im Gebet, nicht weil wir Gott alle Veränderung überlassen. Sondern weil uns genau das zugetraut ist: Nicht wegzusehen. Zuhören zu können. Die Verzweiflung derer mitzuempfinden, die jetzt aus der Ukraine gekommen sind. Und mit ihnen Wege zu finden, wie sie leben können.

Thomas Jeutner ist Pfarrer der ­Versöhnungsgemeinde in Berlin-Mitte.