Gehört der Krieg dazu?

Seit Russlands Angriff auf die Ukraine­ rückt auch die Frage in den Blickpunkt, ob wir „von Natur aus“ kriegerische Wesen sind oder zum Frieden bestimmt. Die meisten in seinen Seminaren sehen das pessimistisch. Dirk Brandt ist anderer Meinung.

Soldaten im Lebenskundlichen Unterricht am „Denkort Bunker Valentin“ in Bremen-Farge
Soldaten im Lebenskundlichen Unterricht am „Denkort Bunker Valentin“ in Bremen-FargeDirk Brandt

Zu Beginn versammeln sich fast alle Teilnehmenden bei der Einschätzung, dass der Krieg zum Menschen gehöre. „Ich will das haben, was du hast – so geht es los“, sagte ein Teilnehmer. Andere meinen: „Nicht alle wollen Krieg. Es sind nur wenige, die das möchten.“ Einmal sagte eine Mutter: „An meinen Kindern sehe ich, dass sie von Beginn an friedlich sind und ein gutes Zusammensein möchten.“ So optimistisch äußern sich nur Einzelne – meistens niemand.

In meinen Seminaren stelle ich diesen Einschätzungen Szenarien und Fakten gegenüber, die Rutger Bregman in seinem Buch „Im Grunde gut“ (2020) gesammelt hat. „Stellen Sie sich vor, zwei Wochen in einem künstlichen Gefängnis zu verbringen! Es gibt keine Vorgaben außer, dass Sie jetzt zufällig Wärter oder Gefangene sind.“ Nach meiner Erfahrung beschließen ausnahmslos alle Kleingruppen, die Sache kooperativ und friedlich anzugehen. Das gilt auch für die Gedankenspiele, als Gruppe auf einer einsamen Insel zu stranden oder in einem Wohnblock verschieden stark von Luftangriffen betroffen zu sein.

Der Verhaltensbiologe Brian Hare weist darauf hin, dass wir als „Tierart“ aufgrund unseres Zusammenhaltes so erfolgreich sind. „Selbstdomestizierung“ heißt das Konzept, wonach sich die frühen Menschen selbst nach Charakter­eigenschaften wie Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ausgelesen haben. Das ist noch an heutigen Urgesellschaften beobachtbar.

Bescheidene Jäger

Erfolgreiche Jägerinnen und Jäger müssen zugleich bescheiden sein. Aggressives dominantes Verhalten wird mit Ausgrenzung und Verbannung bestraft – oder noch schlimmer. Der Ethnologe Lee berichtet 1979 über jemanden in einem Jäger-Sammler-Volk im südlichen Afrika, der schon zwei Menschen getötet hatte und sich immer untolerierbarer aufführte: „Dann feuerten sie giftige Pfeile auf ihn, bis er wie ein Stachelschwein aussah. Er lag still da. Alle traten näher heran, Männer und Frauen und durchbohrten ihn mit Speeren, bis er tot war.“

Diese Schilderung beeindruckt die Seminarteilnehmenden ebenso wie mich. Die Stichworte „Tyrannenmord“ und „Umgang mit toxischem Verhalten“ schließen sich an. Unsere Abneigung gegen Unterdrückung scheint tief in unserer Natur- und Sozialgeschichte verankert zu sein – bis hin zur genetisch wirksamen „Selbstdomestizierung“: „Die aggressiven Störenfriede hatten wenig Chancen, sich fortzupflanzen, während die freundlichsten Mitglieder der Gemeinschaft die meisten Kinder bekommen konnten“ (Bregman, S. 120).

Dass fast 100 Prozent unserer alltäglichen Begegnungen freundlich und kooperativ verlaufen, wird überblendet durch Nachrichten über Gewalt und Krieg sowie durch Hass- und Alarmgeschichten in den sozialen Netzwerken. Doch ich finde, „wir sind mehr“ und sollten keine aggressive Minderheit über unser Menschenbild bestimmen lassen.

Unser Autor
Dirk Brandt ist Militärpfarrer im Evangelischen Militärpfarramt Oldenburg.

Seelsorge in der Bundeswehr