Sogar an so grausamen Orten wie Konzentrationslagern hat es Musik gegeben. Achtzig Jahre nach der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau untersuchen Forschende der Adam-Mickiewicz-Universität (AMU) im polnischen Poznan (Posen) und der Universität Bayreuth gemeinsam die Zusammenhänge zwischen Musik, Raum und Gewalt. Professor Anno Mungen, Leiter des Forschungsinstituts für Musiktheater in Bayreuth, erklärt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), welche Rolle die Musik in Auschwitz gespielt hat und was wissenschaftliche Erkenntnisse bewirken könnten.
epd: Herr Mungen, was ist bisher zum Einsatz von Musik in Konzentrations- und Vernichtungslagern bekannt?
Anno Mungen: Der Wissensstand ist der, dass Musik sehr unterschiedlich eingesetzt wurde. Einerseits haben Täter und Täterinnen sich mit der Musik eine Art Refugium erschaffen, um sich selbst zu trösten. Musik wurde aber auch als Widerstand innerhalb der Konzentrationslager genutzt, oder als Folter.
epd: Haben Sie dazu konkrete Beispiele?
Mungen: In Auschwitz ganz wichtig ist die Praxis gewesen, dass die ausziehenden und dann wieder zurückkehrenden Arbeitstruppen mit Marschmusik begleitet wurden. Das heißt, der Appell erfolgte so, dass man sich aufstellen musste, und dann eben die Lagerkapellen, die aus Häftlingen bestanden, die Marschmusik gespielt haben. Das hat zum Teil sehr, sehr lange gedauert, weil es auch sehr große Gruppen waren. Für die deutschen Täter hatte das eine Art Ordnungsfunktion, aber auch eine psychische Funktion. Man hat damit immer wieder darauf hingewiesen: Wir haben hier das Sagen.
epd: Wie forscht man zu diesem Thema?
Mungen: Die Überlieferungssituation ist nicht gut. Das liegt daran, dass die Deutschen vor der Befreiung der Lager sehr viel Material und Akten zerstört haben. Man ist auf die Erinnerungen der wenigen Überlebenden angewiesen, die zum Teil auch erst relativ spät angefangen haben, darüber zu berichten. In Auschwitz-Birkenau gibt es ein Archiv mit Notenmaterial, wo man ungefähr verstehen kann, was das Repertoire war. Aber es gibt relativ wenige genaue Erkundungen von Konzentrationslagern im Hinblick auf die Musikpraxis. Man kann aber davon ausgehen, dass alle Hauptlager und viele Nebenlager eigene Musikpraxen hatten.
epd: Haben Sie zu Auschwitz schon neue Erkenntnisse gewonnen?
Mungen: Ich arbeite gerade an einem großen Buch, wo ich das Verhältnis von Politik und Kunst im Hinblick auf den Krieg und auf die Shoa untersuche. In der Recherche habe ich einige Dinge herausgefunden, die ein spezielles Stück betreffen und die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch. Sie wurde 1943 nach Auschwitz deportiert und musste dort spielen. Auch für den SS-Arzt Josef Mengele, und zwar das romantische Stück „Träumerei“ von Robert Schumann. Es geht darum, dass die Wahl des Stücks kein Zufall ist. Nicht nur Mengele, sondern auch andere SS-Verantwortliche haben es sich gewünscht. Es gibt einen größeren und sehr interessanten Kontext zur politischen Funktionalisierung von Schumanns Musik in der NS-Zeit.
epd: Lassen sich von den Erkenntnissen in Auschwitz Schlüsse auf die anderen Lager ziehen?
Mungen: Das ist schwierig zu sagen. Allerdings weiß man, dass es unter den Lagerleitern eine Art Wettbewerb gegeben hat, wer das beste Orchester hat. Diese Lagerleiter waren oft sehr kunstaffin und ein großes Stück ihrer Identität bezogen sie aus dieser „deutschen Kultur“, die es für sie zu verteidigen galt.
epd: Vom 26. bis 28. November treffen sich internationale Fachleute und Studierende zu einer Konferenz direkt im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Warum an diesem Ort?
Mungen: Wir machen über das Gelände Führungen, weil der Raum selbst eine ganz wichtige Bedeutung für die Forschung hat. Wir haben die Möglichkeit, uns dort noch mal klarzumachen: Wo haben sie tatsächlich musiziert? Wie weit konnte sich so ein Klang in den Raum ergießen? Denn die Besetzung der Lagerorchester war teilweise nicht gerade klein. Und allein schon die räumlichen Dimensionen von Auschwitz-Birkenau zu erleben, das ist eine ganz andere Erfahrung. Da kann man auch anders noch mal ins Gespräch kommen.
epd: Worum wird es bei der Konferenz inhaltlich gehen?
Mungen: Wir haben die Konferenz aufgeteilt in ein „History Project“ und ein „Memory Project“. Im ersten Projekt geht es um die Historizität, also die Geschichte der Zusammenhänge von Musik und Gewalt vor Ort. Das „Memory Project“ bezieht sich auch ganz stark auf das Erinnern an Auschwitz und was wir 80 Jahre nach der Befreiung dazu brauchen – gerade in einer Zeit, in der die Zeitzeugen immer weniger werden. Und es geht auch um Musik als Erinnerungsträger. Musik ist ja sehr stark in das Denken eingefasst und darüber können Erinnerungen auch sehr gut abgerufen werden.
epd: Wie kann das zu einer heutigen Erinnerungskultur beitragen?
Mungen: Wir versuchen über die Zusammenarbeit mit der Adam-Mickiewicz-Universität ganz stark, junge Menschen einzubinden. Es werden auch Studierende aus Bayreuth und Polen kommen sowie junge Forschende. Unsere Studierenden in Bayreuth gehen oft nach der Uni in die Dramaturgie am Theater und nehmen das Thema mit. Es ist auch so gedacht, dass die junge Generation als Vermittler wirkt und das Erforschte und Erlebte in konkreten künstlerischen oder anderen Projekten umsetzt. (3657/21.11.2025)