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Ex-Staatsministerin Grütters über Merz, Migration, Tiktok und die CDU

Die ehemalige Kulturstaatsministerin hat mit Kulturpolitik Karriere gemacht. Nun sitzt sie nicht mehr im Bundestag, aber zur Fraktionsarbeit und der DNA ihrer Partei hat sie weiter eine klare Meinung.

Drei Jahrzehnte war Monika Grütters (CDU) Teil der Berliner- und Hauptstadtpolitik. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) blickt die langjährige Kulturstaatsministerin am Montag in Berlin zurück – aber auch nach vorne.

Frage: Frau Grütters, Sie sind im Frühjahr nach beinahe 30 Jahren aus dem Politikbetrieb ausgeschieden. Vermissen Sie ihn?

Antwort: Ich habe nicht den Eindruck, aus dem Politikbetrieb heraus zu sein, nur aus dem Parlament. Zwar nehme ich nicht mehr an Fraktionssitzungen teil, aber ich lese natürlich Zeitung und stehe in Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen. Und so etwas wie die gescheiterte Wahl der Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf beschäftigt mich auch als Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken direkt.

Frage: In Teilen gab es in den Soziale Medien eine richtige Kampagne gegen die Kandidatin. Wie haben Sie das erlebt?

Antwort: Es ist bitter, dass eine offensichtlich konzertierte Aktion interessierter Kreise am Ende erfolgreich die Meinungsbildung mancher Parlamentarier beeinflusst. Hier hätte es mehr Ruhe und Standhaftigkeit gebraucht.

Frage: Inhaltlich ging es vor allem um die liberale Haltung der Kandidatin zum Schwangerschaftsabbruch.

Antwort: Ich bin dankbar, dass in der Unionsfraktion der Lebensschutz hochgehalten wird. Die Berufung auf ein christliches Menschenbild, diese sozialethische Komponente im politischen Handeln, ist die DNA der Partei. Auf der anderen Seite wurde Frau Brosius-Gersdorf Unrecht getan, ihre bürgerliche und berufliche Existenz beschädigt. Man darf in der Sache hart streiten, sollte dies aber immer mit Rücksicht auf die Person tun.

Frage: Hätte Frauke Brosius-Gersdorf gar nicht erst als Kandidatin ins Rennen gehen dürfen?

Antwort: Für mich schließen ihre Positionen nicht aus, dass sie Verfassungsrichterin werden kann. Ich denke auch, dass das Verfahren im Bundestag ordentlich gelaufen ist. Das Problem war eher die gezielte Meinungsmache gegen sie. Der dadurch entstandene Schaden trifft die Kandidatin und die politischen Kräfte gleichermaßen. Am Ende ist nicht einmal sicher, ob sie die Kandidatur durchsteht.

Frage: Hätte Kanzler Merz früher eingreifen müssen oder überlässt er das Fraktionschef Jens Spahn?

Antwort: Kurz vor der Bundestagswahl, bei der Abstimmung zum härteren Migrationskurs der Union und der absehbaren AfD-Zustimmung stand die Fraktion nicht geschlossen hinter ihrem Fraktionsvorsitzenden. Damals war das Friedrich Merz. Für viele von uns war diese Situation unerträglich. In der Fraktion sind Tränen geflossen, auch bei denen, die teils mit zusammengebissenen Zähnen für den Antrag gestimmt haben, um im Wahlkampfendspurt kein falsches Signal zu senden.

Für die Fraktionsarbeit braucht es Fingerspitzengefühl, gerade bei knappen Mehrheiten und selbstbewussten Abgeordneten, die ja alle bereits viel geleistet und große Erfahrung haben. Da kommt ein eher autoritärer Führungsstil nicht gut an.

Frage: Haben der gescheiterte Migrationsantrag und die AfD-Zustimmung der CDU geschadet?

Antwort: Mutmaßlich ja. Aber grundsätzlich ist es gut, dass dabei auch unterschiedliche Positionen sichtbar werden konnten – das muss in einer Volkspartei möglich sein. Nicht nur CDU-Wähler waren froh, dass nicht jeder blind mitgemacht hat, sondern dass viele die Nähe zur AfD nicht ertragen und Konsequenzen für ihr eigenes politisches Handeln daraus ableiten. Und dass es auch CDU-Politikerinnen und Politiker gibt, die in der Migrationsfrage den sozial-ethischen Kompass nicht verlieren wollen.

Frage: Die Kirchen haben sich sehr deutlich gegen die Verschärfung in der Migrationspolitik und gegen die Abstimmung mit AfD-Stimmen gewandt. Fanden Sie die Einmischung richtig?

Antwort: Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn aus den Kirchen keine Stellungnahme gekommen wäre; sie sind nach wie vor wesentliche gesellschaftliche Akteure. Und uns fehlen doch zunehmend ethisch-moralische Leitplanken. Kirchliche Sozial- und Bildungsangebote sind willkommen, Kritik an der Tagespolitik aber nicht – das ist wohlfeil. Und nicht nur ich als bekennende Katholiken, auch viele gegenüber den Kirchen distanziertere Menschen haben Angst vor einer gottlosen Gesellschaft.

Frage: Der neue Bundestag ist ein anderer, die SPD ist schwächer, die FDP raus, dafür haben wir eine starke AfD. Könnten Sie sich vorstellen, Bundestagspräsidentin zu sein?

Antwort: Ja (lacht). Es ist herausfordernd, braucht einen klaren eigenen Standpunkt, Orientierung und ein gutes Gespür für überraschende Situationen. Ich finde es gut, wie Julia Klöckner die Ordnung im Bundestag durchsetzt. Es gab schon in den vergangenen Jahren eine üble Pöbelei der AfD-Fraktion. Das sind gezielte Störaktionen, die den Stil im Parlament beschädigen und am Ende noch in den Sozialen Netzwerken landen.

Fragen: Sollte ihr Nachfolger – Kulturstaatsminister Wolfram Weimer – eine stärkere Regulierung der Sozialen Netzwerke vorantreiben?

Antwort: Meiner Meinung nach ja, aber im europäischen Kontext, sonst nützt es wenig. Zum Beispiel sollten wir Tiktok stärker regulieren, vielleicht auch verbieten. Ich sorge mich vor allem um junge Menschen und wie plump sie beeinflusst werden. Kritische Mediennutzung als zwingende Lebensbegleitung muss im Elternhaus, aber vor allen Dingen viel systematischer an den Schulen eingeübt werden.

Frage: Ein Thema, das in den Sozialen Netzwerken hochkocht, ist der Nahost-Konflikt.

Antwort: Die Solidarität Deutschlands mit Israel wird derzeit auf ihre bisher härteste Probe gestellt. Aber gerade als Freund Israels sollte Deutschland auch Kritik üben, ohne jemals das Existenzrecht Israels infrage zu stellen. Dass im Schatten der Ereignisse in Nahost hierzulande antisemitische Übergriffe und Gesinnungen zunehmen, ist traurig und bitter. Über Jahrzehnte waren wir dankbar, dass jüdisches Leben wieder zur Normalität in Deutschland wurde. Dass das selbstverständliche Miteinander jetzt wieder kippt, auch in intellektuellen Milieus in Hochschulen und unter Künstlern, erschüttert mich.

Frage: Für Aufklärungsarbeit und Kulturprojekte braucht es Geld. Doch überall muss gespart werden.

Antwort: Es wäre fatal und dumm, an solchen Programmen zu sparen. Wir brauchen sie dringender denn je, müssen aber natürlich auch ihre Wirksamkeit überprüfen. Ob es einen verpflichtenden KZ-Gedenkstättenbesuch für Schüler braucht, weiß ich nicht. Aber in der Tat sind die Begegnung mit Zeitzeugen und die Wirkung authentischer Orte der wirksamste Anschauungsunterricht. Inzwischen trainieren wir sogenannte Zweitzeugen, das treibt auch die Margot-Friedländer-Stiftung voran. Und wir müssen stärker die Demokratiegeschichte vermitteln.

Frage: Im Rückblick: Was ist Ihnen als Kulturstaatsministerin gelungen, was würden Sie anders machen?

Antwort: In der Corona-Pandemie ist es mit dem milliardenschweren Programm “Neustart Kultur” gelungen, die künstlerische Existenz vieler freischaffender Künstler zu verteidigen. Ich glaube, das hat das Bewusstsein geschärft für den gesamtgesellschaftlichen Stellenwert der Kultur. Beim Kulturgutschutzgesetz sind mir im Verfahren Fehler passiert; in der Sache aber bleibt es gut und richtig. Was ich selbst gerne zu Ende gebracht hätte, ist die Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz – mit neuen Leitungs- und Aufsichtsstrukturen und vor allem mit mehr Autonomie für die Museen.