Eve Harris zeigt Facetten der streng orthodoxen Gemeinschaft

Das neue Buch der britischen Autorin Eve Harris mindert die Entzugserscheinungen, seit die israelische Serie „Shtisel“ nicht mehr bei Netflix zu sehen ist. Ultraorthodoxe Familien bleiben ein beliebtes Thema.

Chani Kaufman hat schon ein ganz wichtiges Ziel in ihrem Leben erreicht – sie ist verheiratet und hat dazu noch ihre übergriffige Schwiegermutter in die Schranken verwiesen. Aber nun stellt sich Chani und ihrem Ehemann Baruch ein existenzielles Problem. Es ist nach fast einem Jahr Ehe noch kein Baby unterwegs. Chani weiß, ihr Mann kann sich von ihr trennen, sollte sie nicht schwanger werden. Die Lage ist also ernst, besonders, wenn man Teil der ultraorthodoxen Gemeinde ist wie hier in dem Roman in Golders Green, einem Stadtteil von London.

Die in London geborene Autorin Eve Harris, die sich selbst als säkulare Jüdin bezeichnet, knüpft mit ihrem neuen Roman „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ an ihren großen Erfolg an, den sie mit „Die Hochzeit der Chani Kaufman“ 2013 in England erzielte. Das Buch stand auf der Longlist des renommierten Booker Prize. 2018 wurde es auch auf Deutsch veröffentlicht. Sie sagte damals, sie habe das Buch auch deswegen schreiben wollen, weil „es schwierig sein kann, ultraorthodoxe Juden als Menschen zu sehen, die dieselben menschlichen Frustrationen haben wie man selbst“.

Die streng religiöse Gemeinschaft fasziniert gerade auch Menschen, die eine andere oder gar keine Religion haben. Beim Streaming-Dienst Netflix waren Serien wie „Shtisel“, „Unorthodox“ und „Rough Diamonds“ sehr erfolgreich. Sie behandeln wie auch die beiden Romane von Eve Harris grundsätzliche Fragen: Wie lebe ich in einer geschlossenen Gemeinschaft mit strengen Regeln? Wie viel Freiheit brauche ich, wie viel Freiheit ist möglich? An Personen in Krisensituationen zeigt Eve Harris, welche Antworten möglich sind.

Chani Kaufman und ihr Ehemann Baruch Levy zweifeln keine Sekunde an ihrer Zugehörigkeit zur streng orthodoxen Gemeinschaft und beachten selbstverständlich die strengen Vorschriften, wenngleich auch Baruch sich hin und wieder die Lektüre von Romanen erlaubt, die eigentlich auf der Verbotsliste stehen. Ihre Kinderwunschbehandlung stellt das junge Ehepaar nun vor eine Herausforderung. Sie müssen überlegen, ob und wie sie die religiösen Vorschriften mit den Ergebnissen der medizinischen Untersuchung in Einklang bringen können, um ein Kind zu bekommen.

Rivka Zilberman, die Rebbetzin, hat nach einer Fehlgeburt ihren Mann Chaim, Rabbi einer kleinen Gemeinde in London, die Familie und ihre streng orthodoxe Gemeinschaft verlassen. Sie hat nicht nur ihren Glauben verloren, auch ihr komplettes soziales und familiäres Umfeld. Eve Harris zeigt die Probleme auf, die sich Menschen in dieser Situation stellen.

Und dann ist da noch Rivkas Sohn Avromi, den eine verbotene Liebesbeziehung zu einer nicht-jüdischen Kommilitonin in tiefe Gewissensbisse stürzt. Nach dem Ende der Beziehung muss er sein Leben und seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft neu ordnen. Seine Eltern schicken ihn nach Israel, damit er dort in einer Jeschiwa wieder in die Spur kommt. Es ist noch das Israel vor dem größten Terroranschlag in seiner Geschichte.

Die Autorin Eve Harris kennt sich aus in der streng religiösen Gemeinschaft, weil sie an einer Schule für Mädchen aus dieser Community unterrichtet hat. Das war nach ihren Angaben auch die Inspiration für ihren ersten Roman „Die Hochzeit der Chani Kaufman“. In einem Gespräch mit ihrem Verlag sagte sie über diese Zeit: „Das war wie ein Weckruf, denn obwohl ich säkulare Jüdin bin, war ich nie zuvor mit dieser Seite meiner Kultur und meines Erbes in Berührung gekommen.“

Sie sagt über sich selbst, sie trüge Vergangenheit und Gegenwart in sich. Ihre Vorfahren hätten wie die Mädchen gelebt, die sie unterrichtet habe. „Meine Familie überlebte den Holocaust, und obwohl mein Urgroßvater ein reisender Rabbi mit Pferd und Wagen in Lemberg war, als es zu Polen gehörte, haben wir unsere religiösen Bräuche aufgegeben, um von den Nazis nicht entdeckt zu werden.“