Esther Bejarano – die Befreite

Sie überlebte Auschwitz und das KZ Ravensbrück, weil sie im Mädchenorchester spielte. Bis kurz vor ihrem Tod erzählte sie jungen Menschen von den Nazi-Verbrechen – und fürchtete mehr denn je eine Wiederkehr des Schreckens.

Esther Bejarano im Februar 2020 in ihrer Hamburger Wohnung
Esther Bejarano im Februar 2020 in ihrer Hamburger WohnungPhilipp Reiss / epd

Hamburg. „Ich will die Menschen aufklären, was damals geschah. Man darf nicht schweigen und nicht vergessen“, sagte die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano einmal. Mit „Damals“ meinte sie die NS-Diktatur.

Wer Esther Bejarano zuletzt traf, sah eine kleine Frau mit grauen Haaren, die zart und resolut zugleich wirkte. Sie hat Auschwitz überlebt, verlor im Holocaust ihre Eltern und ihre Schwester. Nun ist sie im Alter von 96 Jahren gestorben, wie ihre Familie und das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik Deutschland mitteilen. Sie sei nicht allein gewesen, Familie und Freunde waren in den letzten Tagen bei ihr.

Vor Todesmarsch geflohen

Die geborene Esther Loewy aus Saarlouis, Tochter eines jüdischen Kantors, war 16 Jahre alt, als ihre geplante Ausreise nach Palästina scheiterte, und sie Zwangsarbeiterin in Brandenburg wurde. Zwei Jahre später, 1943, deportierten die Nazis sie nach Auschwitz. Sie überlebte als Akkordeonspielerin im „Mädchenorchester“, kam dann ins KZ Ravensbrück, konnte schließlich von einem „Todesmarsch“ fliehen.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Esther Bejarano einige Jahre in Israel, heiratete, bekam zwei Kinder – bis es die Familie 1960 nach Deutschland zurückzog. Von Hamburg aus mischte sie sich bis kurz vor ihrem Tod immer wieder ein in Debatten. Sie ging in Schulen, trat mit der Band Microphone Mafia auf, die auf verschiedenen Sprachen rappt. Damit das, was sie erleben musste, nie wieder passiert.

Immer engagiert: Esther Bejarano im Oktober 2013 bei einer Pressekonferenz für Flüchtlinge mit dem Schauspieler Rolf Becker
Immer engagiert: Esther Bejarano im Oktober 2013 bei einer Pressekonferenz für Flüchtlinge mit dem Schauspieler Rolf BeckerSimone Viere / epd

2020 startete sie eine Petition, in der sie forderte, den 8. Mai als Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum bundesweiten Feiertag zu machen. In einem Offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte sie damals: Der 8. Mai, Tag der Kapitulation Hitler-Deutschlands und der Befreiung vom NS-Regime, muss ein Feiertag werden – allein, um ein Zeichen zu setzen. „Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren“, schrieb Bejarano als Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland.

„Die Gerüche blieben“

In dem Brief deutete sie auch an, was es heißt, Auschwitz überlebt zu haben: „Die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Alpträume in den Nächten“. Dem stellte sie eine Kontinuität des Wegschauens gegenüber, „das große Schweigen nach 1945“.

Zwar habe sich im Lauf der Jahre eine Erinnerungskultur herausgebildet, aber auch Rechte und Neonazis hätten sich neu formiert. So weit, dass heute „Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als ‚Vogelschiss in deutscher Geschichte‘ und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als ‚Denkmal der Schande‘ sprechen“. Was also könnte helfen? Vielleicht, wenn man endlich begreifen würde, „dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war“.

Lange politisch aktiv

Esther Bejarano war schon lange ein politisch aktiver Mensch. In Israel sang sie in einem kommunistischen Arbeiterchor. Sie verließ das Land 1960 auch deswegen, weil sie und ihr Mann mit dessen Politik nicht mehr einverstanden waren: „Ich wollte nicht in den Krieg ziehen.“

Wenn sie über die letzten Kriegstage sprach, erzählte sie von ihrer panischen Angst vor der Ostsee. Als die Alliierten immer näher rückten und die Befreiung schon in greifbarer Nähe war, zwangen die Nazis sie und weitere Häftlinge aus Ravensbrück in einen ihrer berüchtigten Todesmärsche. Wer nicht mehr gehen konnte und auf den Boden sackte, wurde erschossen. Es ging nach Norden, geradewegs auf die Ostsee zu, habe sie damals geglaubt. „Ich dachte, sie werden uns dort rein treiben und sterben lassen“, erinnerte sich Bejarano.

Sie konnte sich von dem Todesmarsch retten, mit einigen Freundinnen gelang ihr in einem Waldstück die Flucht. Die Erinnerung an die Angst blieb. Und die kam zuletzt wieder hoch, wenn sie die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sah: „Das ist das erste, was ich denke, wenn ich in den Nachrichten ein Flüchtlingsboot sehe: ‚Die wollen uns ertränken’“, sagte sie vergangenes Jahr.

„Seid solidarisch! Helft einander!“

Bejaranos Familie und das Auschwitz-Komitee schrieben, sie wollten Bejaranos Auftrag erfüllen: „Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!“ (epd)