“Es gibt ein Leben nach der Alzheimer-Diagnose”

1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind an Demenz erkrankt – Tendenz steigend. Katharina Bürger ist Oberärztin am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München und ehrenamtliche Vorsitzende der Alzheimergesellschaft München. Sie erklärt, warum eine frühzeitige Diagnose hilfreich ist und wie Betroffene und ihre Angehörigen mit der Krankheit leben können.

epd: Alzheimer und andere Demenzerkrankungen lösen bei vielen Menschen Ängste aus. Was ist der Hauptgrund dafür?

Katharina Bürger: Der Verlust geistiger Fähigkeiten, zunehmende Hilfsbedürftigkeit, mögliche Verhaltensänderungen und Veränderungen der Beziehungen zu den Liebsten machen vielen Menschen Angst. Sie fürchten, sich selbst beziehungsweise den anderen zu verlieren. Auch wenn man in den ersten Jahren mit Alzheimer gut leben kann, ist die Krankheit ein Abschied auf Raten – dem entrinnt man leider nicht. Was viele nicht so deutlich sehen ist, dass Alzheimer auch das Leben erheblich verkürzt: Nach der Diagnose führt die Krankheit durch den körperlichen Verfall in etwa sechs bis acht Jahren zum Tod.

epd: Warum ist eine frühzeitige Diagnose wichtig, statt das Problem zu verdrängen?

Bürger: Wer an sich Symptome feststellt, die deutlich über eine Altersvergesslichkeit hinausführen, so dass es im Alltag zu Problemen kommt, sollte zum Arzt gehen, um erstmal andere organische Ursachen – zum Beispiel ein Problem mit der Schilddrüse – auszuschließen. Wenn es dann tatsächlich die Diagnose Alzheimer ist, entlastet das viele insofern, als sie endlich wissen, woher ihre Probleme kommen. Und dann ist es wichtig, das weitere Leben zu planen und Dinge wie Vorsorgevollmacht oder Pflegegrad zu regeln. Mir ist wichtig: Es gibt ein Leben nach der Diagnose. Man kann damit zurechtkommen und noch länger ein erfülltes Leben führen.

epd: Worauf müssen Betroffene und ihre Angehörigen achten, damit das gelingt?

Bürger: Am Anfang ist es wichtig, die Diagnose zu akzeptieren und zu lernen, was sich dadurch bei den kognitiven Fähigkeiten des Patienten verändert. Klar ist: Die Umwelt muss sich der Erkrankung anpassen, denn der Betroffene selbst kann nichts ändern. Ständige Vorwürfe führen zu Depression oder Aggression. Es hilft, wenn Angehörige ihr Verhalten mit Liebe und Humor immer wieder an die veränderten Defizite anpassen.

Zugleich ist es wichtig, zu schauen, was geht. Lassen sich Aktivitäten anpassen, um weiter am Leben teilnehmen zu können? Kann man aufs Tandem umsteigen? Beim alleine Wandern Strecken an Bahngleisen wählen? Neue Hobbys entdecken, wie Malen oder im Chor singen? Ein geistig und körperlich aktiver Lebensstil ist wichtig, weil er den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann, das wird oft unterschätzt. Angehörige wiederum sind der Fels in der Brandung. Deshalb ist es wichtig, dass sie auf sich und ihre Ressourcen achten und beizeiten Hilfe annehmen, wenn körperliche Pflege nötig wird. Das ist nicht unehrenhaft. Niemandem ist geholfen, wenn sie selbst auf der Nase liegen.

epd: Manchen Kommunen tragen das Siegel „demenzfreundlich“. Was bringen solche Kampagnen?

Bürger: Demenz und Alzheimer sind ein großes gesellschaftliches Problem. Derzeit sind in Deutschland 1,8 Millionen Menschen demenzkrank, die Tendenz ist wegen der demografischen Entwicklung steigend. Es ist wichtig, der Krankheit das Stigma zu nehmen, damit sich die Betroffenen nicht aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Deshalb halte ich alle Initiativen, die objektive, sinnvolle Informationen über Alzheimer und Demenz nach außen tragen, für hilfreich. Das große Problem wird aber die Versorgung der Kranken sein: Wer soll das künftig angesichts des Pflegenotstands stemmen, und wer soll das angesichts der Lohnkostensteigerung noch bezahlen? Die Politik macht da nur so viel, wie gerade nicht vermeidbar ist. Ich fürchte, dass immer mehr Pflegeaufgaben bei den Familien bleiben werden. (00/2106/11.07.2024)