Eine vergessene Generation

In der Silvesternacht sorgten mehrere hundert vor allem männliche, mutmaßlich stark alkoholisierte junge Menschen in sozialen Problemgebieten für Aufsehen. Sie schossen mit Böllern und Raketen auf Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr, blockierten Rettungswagen, zündeten einen Bus an, feuerten auf Balkone. Kirchliche Stimmen aus Berlin-Neukölln dazu.

Silvesterraketen wurden in der Nacht des vergangenen Jahreswechsels nicht nur in die Luft geschossen. In Berlin kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen.
Silvesterraketen wurden in der Nacht des vergangenen Jahreswechsels nicht nur in die Luft geschossen. In Berlin kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen.epd/Jochen Track

Berlin. Der Schock nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht ist verdaut, aber die Fragen bleiben: Woher kommt die Gewalt? Und was ist zu tun? Nach den Angriffen auf Polizei-, Rettungs- und Feuerwehrkräfte hatte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) zum Gipfel gegen Jugend­gewalt am 11. Januar eingeladen. Heike Hirth, seit 22 Jahren Sozial­pädagogin im Neuköllner Jugendtreff „TheCorner“ und Beauftragte für sozialraumorientierte Jugend­arbeit des Kirchenkreises Neukölln, saß mit am Tisch.

Hirths Arbeitsort liegt in dem Viertel, wo es besonders laut knallte. In der Silvesternacht habe sie „den ganzen Abend den Polizei­ticker beobachtet“. Besonders schlimm fand sie, „dass der Bus gebrannt hat und die Senioren im Haus Leonberg in der Sonnenallee betroffen waren, da sie ihre Wohnungen verlassen mussten“. Die Jugendlichen seien sofort hoch gerannt und hätten die Senioren gewarnt, erzählt Hirth, „darüber berichtet nur niemand in der Presse“. Ein rassistischer Diskurs dominiere die mediale und politische Aufarbeitung.

Integrationserfolge verspielt

Zwar sei es nötig, über „patriarchale Muster“ zu sprechen, meint Christian Nottmeier, Superintendent des Kirchenkreises Neukölln, „aber wir dürfen nicht in kulturelle und religiöse Stereotypen geraten“. Durch die Corona-Isolation seien einige Integrationserfolge verspielt worden. Unter den Lockdowns hätten kinderreiche Familien in zu kleinen Wohnungen, „deutlich mehr gelitten“ als andere, stimmt Heike Hirth zu: „Viele Jugendliche fühlten sich diskriminiert, weil sie laufend auf der Straße kontrolliert wurden. Die haben ja teilweise nur die Straße, und die wurde ihnen da auch noch genommen.“

Es habe Konflikte mit der Polizei gegeben – an allen Brennpunkten, auch in Hellersdorf, wo der Migrationshintergrund kaum eine Rolle spiele: „Da hat sich zu Silvester eine Menge entladen.“ Die Jugendlichen seien selbst entsetzt gewesen – niemand habe mit Absicht das Leben von Menschen gefährdet.

Die Debatte findet sie „schon ein bisschen rassistisch“. Zwar brächten viele Familien „eine grundsätzliche Skepsis gegenüber staatlichen Einrichtungen mit“ aber angesichts von Alltagsrassismus und -diskri­minierung sei das jedoch kein
Wunder.

Das beginne nicht erst in Clubs, vor denen Türsteher Menschen mit Migrationshintergrund abweisen, und ende noch lange nicht in Geschäften, in denen Kaufhaus­detektive Kunden mit erkennbarer Migrationsgeschichte ohne Grund verdächtigen. Manche Familien lebten sei 30 Jahren mit einer sogenannten Duldung. Da nähmen viele die besseren Rahmenbedingungen etwa von Geflüchteten aus der Ukraine als ungerecht wahr. „Für viele fühlt sich das an wie eine staatlich veranstaltete Ungleichheit“, erklärt Hirth, „aber das bedeutet nicht, dass sie den Staat ablehnen.“

Absolutes No-Go

Es gelte, deutlich zu machen, dass Angriffe auf Einsatzkräfte „ein absolutes No-Go“ sind, betont Nottmeier, „egal, ob sie von Hooligans, Rechtsradikalen oder Jugendlichen mit Migrationsgeschichte ausgehen“. Es sei jedoch offensichtlich, dass die Gewalt auch Ausdruck von Frustration war. „Die Ausschreitungen in der Silvesternacht sind durch nichts zu rechtfertigen“, betont auch Pfarrerin Juni Hoppe, seit Jahresbeginn Leiterin des Interkulturellen Zentrums Genezareth und Beauftragte des Kirchenkreises Neukölln für den interreligiösen Dialog, „das waren schwere Straf­taten“. Ebenso nötig wie zügige Bestrafung sei jedoch mehr Geld für Jugend- und Sozialarbeit.

Mit mehr Polizei auf den Straßen und staatlicher Gewalt allein Gewalt verhindern zu wollen, hält Hirth für wenig hilfreich. Prävention gelinge nur mit mehr Sportangeboten für Jugendliche, mehr Räumen, mehr Unterstützung und mehr Teilhabe. Auch in die Schulsozialarbeit müsse mehr investiert werden.

Stigmatisierung ist kontraproduktiv

Auf dem „Gipfel gegen Jugend­gewalt“ habe es erste Zusagen gegeben, am 22. Februar werde man erneut zusammentreffen. Geplant sei, dass der Berliner Senat im März eine konkrete Finanzierung beschließt – nach etlichen Kürzungsrunden im Jugendbereich: „Wir schreien seit Jahren, dass wir mehr Räume brauchen, eine ganze Generation ist unterversorgt – aber erst, wenn’s knallt, wird reagiert.“ Es sei daher ein gutes Zeichen, dass Giffey zwei Tage nach Silvester den Jugendtreff „TheCorner“ besucht und anderthalb Stunden mit den Jugendlichen gesprochen habe – „ohne Presse“.

Dass Stigmatisierung kontra­produktiv ist, da sind sich alle einig. Hoppe, die als Frau mit Migrationshintergrund eigene Erfahrungen mitbringt, wünscht sich „mehr Differenzierung“. Die Statistik gibt ihr Recht: In Deutschland leben, Stand 2021, mehr als 22,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Die Unterscheidung in eine vermeintliche „Mehrheitsgesellschaft“, bestehend aus „echten weißen“ Deutschen, gegenüber einer migrantischen Minderheit, wie manche konservative Politiker suggerieren, helfe nicht weiter, betont Hoppe. Sie favorisiert eine „postmigrantische Debatte“, die der komplexen Lage gerecht werde.

Das gelte auch für Zuschreibungen religiöser Art. Es gebe so wenig DAS Christentum wie DEN Islam. „Jegliche Art von stark verallgemeinernder Kommunikation sollte unterbleiben.“ Stattdessen müsse man nach den Ursachen von Wut und Gewalt fragen. Und entsprechend handeln, auch als Kirche.

Superintendent Nottmeier sagt, es müsse „gelingen, Integration zu ermöglichen“. Das sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Kirche: „Wir müssen auch sozialraumorientiert zusammenarbeiten und nicht nur in den eigenen Milieus unterwegs sein, sondern für alle Menschen, die hier wohnen.“