Ein Streifzug durch die Normandie – 80 Jahre nach dem D-Day

Für den “Erinnerungstourismus” ist die Normandie eine Art Hotspot. In gefühlt jedem Ort finden sich Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch wer die Region nur darauf reduziert, tut ihr Unrecht.

In der Normandie könnte es in den kommenden Tagen etwas eng werden. Die französische Region bereitet sich auf ein besonderes Jubiläum vor. Hier begann vor 80 Jahren die “Operation Overlord”, mit der die Alliierten im Westen zum entscheidenden Schlag gegen Nazi-Deutschland ausholten. Der Angriff begann am 6. Juni 1944 mit einer groß angelegten Landungsaktion an den Stränden zwischen Cherbourg und Caen.

Zur Erinnerung an den D-Day werden zahlreiche hochrangige Gäste erwartet, allen voran Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und sein US-Amtskollege Joe Biden. Die Sicherheitsvorkehrungen sind entsprechend hoch, ebenso das Publikumsinteresse. Ein Grund: Vermutlich zum letzten Mal wird es möglich sein, jene zu sehen und vielleicht auch zu sprechen, die damals als Soldaten den Grundstein für ein freies Europa legten.

Dabei, das betonen die Einheimischen immer wieder, ist die Normandie auch abseits des Zweiten Weltkriegs ein Landstrich voller Geschichte und Geschichten – vor grandioser Kulisse wie der Steilküste von Etretat. Das gefällt offenbar immer mehr Personen, folgt man der Statistik des Tourismusverbandes. Demnach wurden im vergangenen Jahr 83,5 Millionen Übernachtungen registriert; ein Plus von fast fünf Prozent gegenüber 2022. Die meisten auswärtigen Besucher kamen aus Deutschland.

Normandie – schon der Name führt tief hinein ins Mittelalter, als die Wikinger von Skandinavien aus mit ihren Eroberungszügen Angst und Schrecken in Europa verbreiteten. Die “Nordmänner” ließen sich jedoch bald schon dauerhaft an diesem Teil der französischen Atlantikküste nieder. Einer von ihnen, der 927 oder 933 gestorbene Rollo, schwang sich zum ersten Herrscher der Normandie auf.

Der Assimilationsprozess verlief laut Buchautor Rudolf Simek in rasantem Tempo. Bereits zwei Generationen später traten die Bezüge zur alten Heimat Skandinavien in den Hintergrund, auch wenn, wie der Forscher festhält, das Altnordische noch zu Beginn des 11. Jahrhunderts eine gängige Umgangssprache blieb – “zumindest in den Hafenstädten”.

Ob in Fecamp oder Dives-sur-Mer: Überall haben die Normannen ihre Spuren hinterlassen. Zu den eindrucksvollsten Zeugnissen gehört ein Bauwerk im Hinterland: die mächtige Burg von Falaise. In dem Ort kam ein gewisser Wilhelm zur Welt. Er wurde am Weihnachtstag 1066 in der Abtei von Westminster zum König der Engländer gekrönt. Auf dem kunstvoll bestickten Teppich von Bayeux sind die Fahrten des “Eroberers” über den Ärmelkanal verewigt.

Der mittelalterliche Comic-Strip zählt zu den Top-Sehenswürdigkeiten in der Normandie – und wer nicht gerade zur Hauptsaison in Bayeux anlandet, muss auch nicht lange Schlange stehen, um das kostbare, inzwischen zum Weltdokumentenerbe der Unesco gehörende Stück anzuschauen. Wie eng auch in späteren Zeiten die Geschicke Frankreichs und Englands miteinander verwoben waren, zeigte zuletzt der britische Historiker Dan Jones in seinem Bestseller “Kampf der Könige – Das Haus Plantagenet und das blutige Spiel um Englands Thron”.

Zahlreiche kleine und größere Landmarken setzte der Adel in der malerischen Region, die im Frühjahr durch einen farblichen Dreiklang aus gelben Rapsfeldern, grünen Wiesen und dem türkisblauen Meer im Hintergrund besticht. Ein Beispiel ist das etwas abseits der großen Touristenströme gelegene Schloss von Fontaine-Henry mit einer über 800-jährigen Geschichte. Im Sommer lädt Schlossherr Pierre-Apolinaire d’Oilliamson Besucher höchstpersönlich zu einer Entdeckungsreise unter die angeblich “höchsten Dächer Frankreichs”.

Im Inneren des beeindruckenden Bauwerks, das sich in einem weitläufigen Park befindet, gibt es Kunst von internationalem Rang zu entdecken: Peter Paul Rubens, Hubert Robert oder Hyacinthe Rigaud. Nicht weit vom Chateau entfernt lädt ein malerischer Hafen zum Verweilen ein: Port-en-Bessin-Huppain. Ein Sandwich im “Cafe du Port” mit Blick auf die Boote der Fischer – viel entspannter geht es eigentlich kaum. Und doch ist auch hier die jüngere Geschichte präsent.

Ein wenig oberhalb des Ortes befindet sich eine Bunkeranlage der Deutschen. Ein Blick durch den schmalen Sehschlitz hinaus aufs Meer setzt das Kopfkino in Gang. Von hier aus muss die Besatzung die Invasion der Alliierten mitbekommen haben; auch wenn die entscheidenden Kämpfe am D-Day nicht direkt in Port-en-Bessin-Huppain stattfanden. Für die Versorgung ihrer Truppen errichteten die Alliierten künstliche Nachschubhäfen. Überreste davon finden sich in Arromanches-les-Bains. Bei Ebbe spazieren Fußgänger um die meterhohen Hinterlassenschaften aus Beton und Metall.

Die stummen Riesen lassen erahnen, welche Anstrengungen und Opfer sich hinter der “Operation Overlord” verbargen. Von der mit Abstand größten amphibischen Landung der Weltgeschichte spricht der britische Historiker Andrew Roberts. 6.939 Wasserfahrzeuge, 11.500 Flugzeuge und zwei Millionen Mann seien aufseiten der Alliierten zum Einsatz gekommen. Nach der Landung forderten die Kämpfe im welligen, von Hecken durchzogenen Terrain, dem bocage, Abertausende Tote. Daran erinnern die vielen Soldatenfriedhöfe.

Der bekannteste von ihnen ist der der US-Amerikaner in Colleville-sur-Mer. Dort kommen Spitzenpolitiker am 6. Juni vor der zentralen Zeremonie am Omaha Beach zusammen, um noch einmal der Toten zu gedenken. Die Überlebenden wie der bald 100-jährige US-Veteran Charles Norman Shay haben vor allem eine Botschaft: Es sei sinnlos zu meinen, die Probleme der Welt ließen sich mit Kriegen lösen.