„Ein Patentrezept für geistliche Aufbrüche gibt es nicht“

Am 16. Februar wird Pfarrerin Miriam Hechler auf der Karlshöhe in Ludwigsburg in ihr Amt als Fachreferentin für innovatives Handeln und neue Aufbrüche innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Württemberg eingeführt. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) verrät die 39-Jährige, was ihr Mut macht, wie Bibliotheken Kirchengemeinden bereichern können und wie sie sich die württembergische Landeskirche im Jahr 2034 vorstellt.

epd: Frau Hechler, Ihr offizieller Titel „Fachreferentin für innovatives Handeln und neue Aufbrüche innerhalb der württembergischen Landeskirche“ klingt beeindruckend. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Hechler: Meine Aufgabe ist es, alles wahrzunehmen und zu vernetzen, was es an neuen Aufbrüchen in unserer Landeskirche gibt. Und da passiert gerade unheimlich viel. Es gibt Menschen, die sich für den Klimaschutz engagieren, andere, die in geistlichen Gemeinschaften leben, wieder andere, die neue Gottesdienstformen ausprobieren. Das ist auch deshalb so ermutigend, weil es zeigt, dass es in der Kirche mehr gibt als Strukturfragen.

epd: In anderen Teilen der Welt wachsen die Kirchen, besonders in Afrika oder Lateinamerika. Was braucht es, damit es auch hierzulande zu einem geistlichen Aufbruch kommt?

Hechler: Ein Patentrezept für geistliche Aufbrüche gibt es nicht. Um es kirchlich zu formulieren: Das hängt immer auch vom Wirken des Heiligen Geistes ab. Aber es braucht Offenheit von Seiten der Kirche. Anstatt einfach das fortzuführen, was wir als Kirche schon immer so gemacht haben, sollten wir uns fragen, was die Menschen heute benötigen. Es braucht die Bereitschaft, Kirche neu zu denken – nicht nur in den Formen, die früher einmal gut und richtig waren.

epd: Wie kann das konkret aussehen? Momentan kehren jedes Jahr Zehntausende der Kirche den Rücken.

Hechler: Wir sind noch zu sehr in dem Denken verhaftet, dass die Kirche Angebote macht und die Menschen kommen müssen. Wir können aber nicht mehr erwarten, dass die Menschen in die Kirche oder ins Gemeindehaus kommen. Vielmehr sollten wir zu ihnen gehen. Wir müssen raus aus den Kirchen und Gemeindehäusern. Warum nicht mal im Stadtteilhaus Gottesdienst feiern? Da sind die Menschen ohnehin.
Oder mir schweben Kooperationen vor, wie es sie vereinzelt bereits gibt – etwa mit der Bücherei vor Ort. So könnten kirchliche Mitarbeiter vor Besuchen bei älteren Menschen mit der Bibliothekarin sprechen, welche Bücher en vogue waren, als diese Menschen jung waren. Dieses Buch könnten sie dann mitnehmen, um darüber ins Gespräch zu kommen. Ziel der Kirche sollte es nicht in erster Linie sein, die Menschen zu Gottesdienstgängern zu machen, sondern vielmehr mit ihnen zu leben. Da braucht es ein Umdenken.

epd: Wir leben in herausfordernden Zeiten – Kriege, Inflation, gesellschaftliche Spaltung. Hinzu kommen vielfach Probleme und Sorgen im persönlichen Umfeld. Eigentlich müsste die Kirche als Sinngeber Hochkonjunktur haben.

Hechler: Die großen Institutionen stecken allesamt in der Krise. Das betrifft Parteien, Gewerkschaften, Vereine – und eben die Kirchen. Viele Menschen haben an die Kirche keine Erwartungen mehr. Sie nehmen sie nicht mehr als zentralen Sinngeber wahr. Der Missbrauchsskandal hat zudem zu einem riesigen Vertrauensverlust geführt. Viele sagen sich: Glauben kann ich auch allein, dafür brauche ich die Kirche nicht.

epd: Wenn Sie jemand fragte, warum er in der Kirche bleiben soll, was würden Sie ihm sagen?

Hechler: Ich würde ihm sagen, dass Kirche nicht nur eine Glaubens-, sondern auch eine Solidargemeinschaft ist, in der einer für den anderen einsteht. Ich würde auf all das hinweisen, was Kirche für die Gesellschaft als ganze tut. Denken Sie nur an Angebote wie die Telefon- oder Krankenhausseelsorge. Für viele Menschen sind diese Angebote unheimlich wertvoll. Man macht sich wohl kaum klar, was der Gesellschaft fehlen würde, wenn es die Kirche nicht gäbe. All diese Aufgaben können aber nur wahrgenommen werden, wenn Menschen auch bereit sind, die Institution Kirche durch ihre Mitgliedschaft zu unterstützen.

epd: Wo sehen Sie die württembergische Landeskirche in zehn Jahren?

Hechler: Um es mit einem Bild zu sagen: Die Kirche wird nicht mehr nur der große, unbewegliche Tanker sein. Sie wird kleiner werden. Und es werden kleinere, wendige Boote hinzukommen, die auf diese Weise viel schneller bei den Menschen und ihren Bedürfnissen sind.

epd: Und was heißt das konkret?

Hechler: Wir müssen die Kirche vor allem von Ballast befreien und entbürokratisieren. Viele Gebäude werden auf absehbare Zeit nicht mehr benötigt werden. Und viele Abläufe sind viel zu kompliziert. Warum müssen Menschen lange Formulare ausfüllen, wenn sie beispielsweise ihr Kind in einer anderen Kirchengemeinde taufen lassen möchten? Das ist nicht mehr vermittelbar. (0310/11.02.2024)