Die sonnige Seite des Mittelalters

Die Wahrheit beginnt oft mit einer Fälschung. Auch auf die Insel Reichenau mit ihrer grandiosen Vergangenheit trifft das zu. Denn im Jahr 724 wurde das Kloster auf der Insel gegründet und damit der erste Buchstabe für eines der spannendsten Kapitel der Kulturgeschichte geschrieben. Die Urkunde, die diesen Vorgang festhält und mit vielen Zeugen besiegelt, ist gefälscht – die Insel und ihre wunderbaren Akteure gibt es dennoch und bis heute.

Die Urkunde, die ein Mönch namens Ulrich recht unbeholfen zusammenfügte, ist in der wohl interessantesten Ausstellung zu sehen, die es in diesem Jahr in Baden-Württemberg zu sehen gibt. Sie heißt „Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“ und sie präsentiert die schönsten Stücke aus der Werkstatt der Mönche, die seit dem frühen Ende des Klosters in alle Welt zerstreut sind. Denn das ist die große Leistung der Schau: Sie führt zusammen, was zusammengehört. Wenigstens für einige Monate werden kostbare Reliquiare, handgeschriebene Bücher und Holzschnitzereien an einem Ort zu sehen sein.

Anlass ist die Gründung des Klosters Reichenau vor 1300 Jahren, die in der fantasiereichen Urkunde des Schreibers Ulrich beschrieben wird. Die bürgerliche Gemeinde Reichenau feiert den runden Geburtstag im großen Stil, denn auf der Reichenau feiern die Menschen mit Ausdauer, da sie ein Talent fürs Festliche haben und deshalb auch drei spezielle Feiertage mehr haben als andere Bürger. Die Landesausstellung freilich erwies sich als zu groß, die Gemeinde verfügt nicht über die eine geeignete Räumlichkeit. Deshalb wird die Präsentation im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz zu sehen sein. Sie wird am Freitag (19. April) von Ministerpräsident Winfried Kretschmann eröffnet werden.

Das Jubiläum der Reichenau ist kein lokales Ereignis. Ausstellungsorganisator Olaf Siart ordnet die Bedeutung der Mönchsgemeinschaft so ein: „Die Reichenau bildete ein europäisches Zentrum für Bildung und Kultur. Sie war keine abgeschiedene Insel.“ Die Leitung und Vorbereitung liegt in Händen des Badischen Landesmuseums in Karlsruhe. Es nützte seine guten Verbindungen zu renommierten und reichen Museen, die heute im Besitz der meisten Kunstschätze sind, die früher auf der Reichenau lagern. So zählt der Louvre in Paris ebenso zu den Leihgebern wie die Domschatzkammer in Trier.

Manche Exponate sind an ihren Stammorten so wichtig, dass sie nur für einige Wochen in der Konstanzer Ausstellung gastieren werden. Ein Objekt erwies sich sogar als nicht reisebereit: Den St. Galler Klosterplan wird die Stiftsbibliothek in St. Gallen nicht hergeben; diese detaillierte architektonische Skizze wurde im Reichenauer Skriptorium gezeichnet und dann an die Brüder in der Schweiz verschenkt. Dort will man sie nicht mehr auf Reisen schicken.

Doch fällt dieser große Abwesende nicht auf. Die Ausstellung ist reich an herrlichen Stücken. Sie werden in abgedunkelten Räumen präsentiert, deren Farbton wechselt. Das verleiht den 250 Exponaten eine mystische Stimmung. Der Besucher taucht in das Mittelalter ein, das ebenso unterhaltsam wie fachkundig vermittelt wird. Neben dem wohlmeinenden Fälscher Ulrich und seinem Dokument von 724 sieht man die ersten Lehrbücher, die in der Klosterschule verwendet wurden, um Novizen und die Söhne des Adels zu unterrichten.

Der Einband eines Messbuchs aus Frankreich ist aus Blattgold gefertigt. In einer Ecke liegt ein unscheinbarer Band, auf dessen Seiten hunderte von Namen geschrieben sind – das ist das berühmte Verbrüderungsbuch, mit dessen Hilfe die Mönche für ihr eigenes Seelenheil und das vieler anderer Menschen gebetet haben. Die Präsentation schafft eines: Sie weckt neuerlich das Interesse am Mittelalter und zeigt, zu welchen kulturellen Leistungen diese Epoche imstande war. (0797/17.04.2024)