„Die Demokratie liegt in unseren Händen“
Seit 2018 leitet Mirjam Zadoff das NS-Dokumentationszentrum in München. Die promovierte Historikerin hat das Museum modernisiert und zu einem Ort des Austauschs über die deutsche Vergangenheit und deren Relevanz für die Gegenwart und Zukunft Europas entwickelt. Ein Gespräch über das „Nie wieder!“ im Kontext des Terrorangriffs auf Israel und der Recherchen zu rechtsextremen AfD-Treffen.
epd: Frau Zadoff, bis zu 30 Prozent der deutschen Wahlberechtigten sind bereit, eine AfD zu wählen, die sich mit Geheimtreffen und Nazijargon immer ungenierter rechtsextrem präsentiert. An diesem Wochenende sind viele Menschen dagegen auf die Straße gegangen. Wie kann aus dem Protest eine nachhaltige Bewegung zum Schutz der Demokratie werden?
Mirjam Zadoff: Ich glaube, es warten unbequeme Zeiten auf uns. Gerade für viele jüngere Menschen ist diese Form des demokratischen Zusammenlebens selbstverständlich. Uns allen ist nicht bewusst, wie fragil und ungewöhnlich dieses politische System ist: Nur 13 Prozent der Menschen weltweit leben in liberalen Demokratien! Wir müssen lernen, dafür im Alltag einzutreten. Und wir müssen die AfD und andere Rechtspopulisten ernst nehmen: Das ist nicht nur ein Gerede. Das, was in extremistischen Kreisen in Deutschland oder auch Österreich besprochen wird, soll nach deren Willen auch so kommen. Die Beispiele Polen, Ungarn und Italien zeigen, wie drastisch schnell gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten verloren gehen können. Es geht deshalb darum, politisch für das freie und solidarische Zusammenleben einzutreten und dafür auch laut zu werden im Gespräch mit Familie und Freunden.
epd: Sie sind in der Arbeit am NS-Dokuzentrum täglich mit der Geschichte eines rechtsextremen Regimes konfrontiert. Wird Ihnen angesichts der Entwicklung in Deutschland bange?
Mirjam Zadoff: Dass in der Folge der Potsdam-Debatte so ausführlich über die Vorstellung von Deportationen gesprochen wird, löst bei vielen Menschen Angstszenarien aus. Das Gefühl, dass gerade so viele unter existenziellen Druck geraten, ist sehr bedrängend. Umso wichtiger ist es, zuversichtlich zu bleiben: Wir haben als Demokratinnen und Demokraten noch nicht verloren. Es liegt momentan in unseren Händen. Und wenn wir dafür kämpfen, wird es auch funktionieren. Ich bin überzeugt, dass der Großteil der Menschen keine extreme Politik in Führungspositionen will. Politische Hetzreden machen uns nicht glücklicher. Das spüren viele Menschen gerade, und das macht mich zuversichtlich.
epd: „Nie wieder!“ ist mit Blick auf den Holocaust heute die rhetorische Formel im Kampf gegen Antisemitismus. Kann man sie angesichts des Terroranschlags auf Israel am 7. Oktober und mit Blick auf die AfD überhaupt noch verwenden?
Mirjam Zadoff: Eingebürgert hat sich mittlerweile die Formulierung „Nie wieder ist jetzt!“, und das stimmt in vielerlei Hinsicht. In den vergangenen Monaten hat sich vieles zugespitzt, das sich schon länger angebahnt hat: ein Klima von Hass und Hetze. Die Frage bleibt: Was haben wir aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt, und welche Konsequenzen ziehen wir? Die Erinnerungskultur allein kann dieses Problem nicht lösen. Dafür braucht es die klare politische Haltung, Jüdinnen und Juden zu schützen, aber auch andere vulnerable Minderheiten. Denn der steigende Antisemitismus ist nicht mit einem ebenso wachsenden Rassismus zu bekämpfen, und nicht getrennt davon zu sehen. Es geht auch darum, den Konsens, der nach 1945 entstand, zu erhalten und nicht permanent die Themen der AfD zu übernehmen. Mittlerweile wird debattiert, das Grundgesetz zu ändern, um Asylgesetze zu verschärfen und sich von der Genfer Konvention zu lösen. Diese staatlich sanktionierte Unmenschlichkeit diktiert uns die AfD, und wir setzen sie als demokratische Gesellschaft um.
epd: Seit dem 7. Oktober haben antisemitische Übergriffe in Deutschland zugenommen, Jüdinnen und Juden haben noch mehr Angst, ihre Identität öffentlich zu zeigen. Was ist nötig, damit sie wieder Sicherheit gewinnen und wer kann dazu beitragen?
Mirjam Zadoff: Den Krieg in Israel und Palästina, der diese weltweite Zuspitzung mit sich bringt, können wir in Deutschland nicht lösen. Deshalb brauchen wir einerseits Angebote und Programme zur Geschichte der Region und des Konflikts. Andererseits geht es darum, für Menschen einzustehen, die sich jetzt unsicher und verletzbar fühlen. Sie müssen im Alltag spüren, dass auch ihre Mitmenschen, die nicht von der Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas betroffen sind, das Problem sehen und sich solidarisch zeigen. Damit tut man sehr viel. Und das kann jeder und jede machen. (00/0229/21.01.2024)