Die Ausstellung zum 75. des Grundgesetzes soll kontrovers werden
Kein rituelles Abfeiern, sondern kreative Selbstvergewisserung: Insgesamt 20 Künstlerinnen und Künstler deuten die Grundrechte aktuell aus. Schon die wenigen bekannten Namen versprechen eine spannungsreiche Schau.
Scheinbar abstrakt und doch unerträglich konkret. Heike Ruschmeyers Blick in den Abgrund des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ hängt im Bundestag. „NSU-Terror, 09. Juni 2004“, lautet der lakonische Titel des Werkes in Schwarz und Grau: die Reste eines ausgebrannten Ladens nach dem Nagelbombenanschlag.
Seit Jahrzehnten akquiriert das Parlament Kunstwerke. Abgeordnete können sie sich für ihre Büros leihen. Oft sind es kreative Beiträge zu aktuellen Themen von Politik und Gesellschaft. Zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes im kommenden Jahr sollen nach dem Willen des Kunstbeirats im Bundestag 19 Künstler und Künstlerinnen die 19 Grundrechte gegenwartsbezogen interpretieren.
Dem Beirat gehören neben der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen an. Mit einem Jahresbudget von 275.000 Euro entscheidet er darüber, welche Werke der Bundestag ankauft und welche Aufträge er an zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler vergibt. Für die Umsetzung des „Grundrechte-Projekts“ ist Kristina Volke verantwortlich. Die stellvertretende Leiterin und Kuratorin in der Kunstsammlung will dabei „nicht auf Illustration, sondern auf Auseinandersetzung“ setzen.
Die Kunstsammlung hat bereits eine große Installation, die sich auf die Grundrechte bezieht, vor dem Jakob-Kaiser-Haus an der Spreepromenade. Der israelische Künstler Dani Karavan hat auf 19 Glasstelen die Grundgesetzartikel in der Fassung von 1949 eingraviert. Sie erinnern an die alttestamentarischen Gesetzestafeln.
Doch stehen sie hier – demokratisch-transparent bis in die Schrift – völlig frei, dem vorbeigehenden Bürger ausgesetzt. Ein Zeichen für die Zerbrechlichkeit des rechtlichen Rückgrats der Demokratie oder ein Symbol für das Wagnis einer Gesellschaft, seinen Zusammenhalt ganz auf die innere Überzeugungskraft dieser Freiheitsrechte zu bauen. Deshalb müssen diese Grundrechte immer neu vermittelt, vergewissert und erworben werden – auch durch das „Grundrechte-Projekt“.
Obwohl die Ausstellung mit den 19 Arbeiten erst Ende 2024 eröffnet werden soll, begann das Projekt bereits am 3. September, dem „Tag der Ein- und Ausblicke“, dem Tag der offenen Tür des Bundestags. Hier initiierte die Berliner Künstlerin Barbara Wrede einen Workshop, der in den kommenden Monaten „alle Teilnehmenden zur kreativen Auseinandersetzung mit den Begriffen Freiheit und Würde ermutigen will“, erläutert Volke. Die Ergebnisse werden als 20. Position und damit als Beitrag der Bevölkerung in die abschließende Ausstellung eingehen. Die Liste der anderen Künstler ist noch nicht offiziell bekannt.
Allerdings gibt die Kuratorin der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) einen ersten Einblick mit exemplarischen Positionen, um das Konzept zu erläutern. Ausgangspunkt bei der Auswahl sollen enge Bezüge zu den jeweiligen Grundrechten sein – über die Biografie oder das Werk. Nicht zufällig beginnt Volke als gebürtige Dresdnerin mit Artikel 8: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“.
Sie selbst erinnert sich noch, wie sie als 17-Jährige „vor dem Bahnhof den Schlagstock kennenlernte… wir sind um unser Leben gerannt“. Harald Hauswald machte sich seinerzeit einen Namen als Fotograf. Mit eindringlichen Bildern dokumentierte er bei den Montagsdemonstrationen 1989 den Freiheitsdrang der Menschen in der DDR, vor allem in Ost-Berlin. Für Volke sind es „Ikonen der DDR-Geschichte und der ostdeutschen Fotografie“.
Nun soll der Fotokünstler festhalten, was er heute mit der Versammlungsfreiheit verbindet. Die Corona-Demonstrationen vor dem Brandenburger Torm die klebenden Klima-Aktivisten auf dem Berliner Ring? Demokratie ist anstrengend. Auf Hauswald wartet eine ganz neue Herausforderung.
Mit Artikel 5 soll sich Kubra Khademi befassen: „Sie steht gleichsam mit ihrem eigenen Körper für die Kunstfreiheit ein“, so Volke. „Ironisch, feministisch, provokant“, charakterisiert sie die in Afghanistan geborene Künstlerin. Bekanntheit erlangte Khademi 2015 durch ihre Performance „Armor“. Sie demonstrierte mit einem Körperpanzer aus Eisen als „feministische Rüstung“ gegen die patriarchale Politik. Nach Morddrohungen fand sie in Frankreich Asyl und wurde innerhalb kürzester Zeit weltbekannt und sehr erfolgreich.
Kontrovers wird es wohl auch bei Artikel 4: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Gefragt ist hier die in Berlin lebende israelische Künstlerin Ilit Azoulay. Sie arbeitet mit fotografischen Tableaus und Collagen. Volke sieht die kreative Spannung gerade darin, dass Azoulay intensive Erfahrungen aus Israel mitbringt – einem Land, in dem Religion sowohl eint als auch trennt, in jedem Fall aber identitätsstiftend ist.
In gut einem Jahr wird man mehr wissen. Dann sollen die Kunstschaffenden ihre 19 Werke zur Aktualität der Grundrechte präsentieren. Bis dahin bleibt die künstlerische Selbstvergewisserung des Bundestags noch ein Work in Progress.