Deutschlands erste Gehörlosen-Professorin im Portrait

Sabine Fries ist die erste gehörlose Professorin in Deutschland und unterrichtet den Nachwuchs an Gebärdensprachdolmetschern. Ihre Lebensleistung ist einzigartig – auch dank familiärer Unterstützung.

Sabine Fries ist Professorin für Gehörlosenstudien, Theologin, Mutter von drei Kindern – und selbst gehörlos
Sabine Fries ist Professorin für Gehörlosenstudien, Theologin, Mutter von drei Kindern – und selbst gehörlosepd-bild / Gabriele Ingenthron

Wer Sabine Fries beim Sprechen – besser Gebärdenreden – zusieht, hat den Eindruck, die gehörlose Frau schon lange zu kennen. Ihre Nase kräuselt sich, der Mund verzieht sich, ihre Augen gehen weit auf. Alles in rasant schneller Abfolge. Gleichzeitig malen ihre Hände Zeichen und Bilder in die Luft, als würde sie die Worte unterfüttern mit Nuancen des Gedachten. Reden auf dreidimensionale Art: hochkomplex und faszinierend. Das ist Gebärdensprache. Auf Hörende wirkt es anstrengend, für Gehörlose ist es Alltag – der Alltag von Sabine Fries.

Sie ist die erste gehörlose Professorin in Deutschland und unterrichtet an der Hochschule in Landshut den Nachwuchs an Gebärdensprachdolmetschern. „Der Bedarf ist immens“, sagt Fries. Während in den USA Nachrichtensendungen, kulturelle Veranstaltungen und Vorträge wie selbstverständlich „gebärdet“ werden, ist dies in Deutschland noch die Ausnahme.

Kein systematisches Unterstützungssystem für Gehörlose

Auch wenn das Verständnis für Gehörlose in der Gesellschaft schon viel größer geworden sei: Die Inklusionsmaßnahmen der Bildungspolitik beschränkten sich häufig darauf, „taube Menschen mit noch besseren Geräten hörend zu machen oder noch besser lautsprachlich kommunizieren zu lehren“, sagt Fries. „Letztlich bleiben sie dadurch von vielen Informationen ausgeschlossen.“ Wollen gehörlose Kinder in eine Regel- statt Förderschule gehen, um eine adäquate Bildung zu erhalten, müssten Eltern einen Gebärdensprachdolmetscher besorgen und oft auch noch die Bezahlung organisieren. „Ein systematisches Unterstützungssystem fehlt hier“, sagt die 58-jährige Theologin.

Sabine Fries wuchs als Tochter gehörloser Eltern mit Deutsch und deutscher Gebärdensprache auf
Sabine Fries wuchs als Tochter gehörloser Eltern mit Deutsch und deutscher Gebärdensprache aufepd-bild / Gabriele Ingenthron

Bei einem Vortrag in der Christuskirche in Landshut, von einer Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt, erzählt sie eine Episode, die ihr beim Besuch einer Kathedrale in England passiert ist. Dort traf sie auf einen Pfarrer, der ihr nach einem kurzen Gespräch anbot, für ihre Heilung zu beten. „Es kam mir wie Cancel Culture vor. Es leugnet alles, was ich bin. Als würde er Gott bitten, dass er einen Mann aus mir macht.“ Für die Emanzipationsbestrebungen und Empowerment-Bemühungen der Gemeinschaft der Gehörlosen seien solche Haltungen kontraproduktiv. Wunderheilmittel seien nicht erwünscht, mehr Gebärdensprachdolmetscher dagegen schon.

Gebärdensprache sei Sprache „wie Französisch oder Finnisch“

Fries wuchs als Tochter gehörloser Eltern bilingual auf, mit Deutsch und deutscher Gebärdensprache. Ihren Eltern verdankt sie, dass sie in vollem Umfang Bildung genossen hat, denn sie schickten sie in die Regelschule. „Meine beste Freundin saß in der Schule neben mir und fungierte als Dolmetscherin und Mitschreibkraft.“ Ihre nicht gehörlose Großmutter lehrte sie das Sprechen. Man merkt Fries nicht an, dass sie weder sich selbst noch ihr Gegenüber hört. „Ich glaube, all diese Erfahrungen sind Teil meines Selbstbewusstseins“, sagt sie. Gebärdensprache sei eine Sprache wie jede andere, „wie Französisch oder Finnisch“, sagt die Professorin, deren Mann und drei Kinder nicht gehörlos sind. Auf Dauer von den Lippen abzulesen aber sei anstrengend.

Fries hat in Berlin evangelische Theologie studiert, arbeitete dort lange Zeit in der Gehörlosenseelsorge mit. Sie baute dort den Studiengang Gebärdensprachdolmetschen mit auf. Seit 2016 ist sie Professorin in Landshut und pendelt zwischen der Hauptstadt und Landshut hin und her. In Berlin-Mitte hat sie ihre Lieblingscafés und Kulturangebote, ihre Kinder und den Partner. In Landshut lebt sie in einem Mehrgenerationen-Wohnprojekt. „Da fühle ich mich sehr wohl.“

Fries hat einen Wunsch hat sie trotzdem: Eine geregelte Verfügbarkeit von Dolmetschern müsste ihr zufolge zum Alltag gehören. Ihrem gehörlosen Vater, der früher bei VW in Wolfsburg gearbeitet hat, seien die Kollegen aus Italien am liebsten gewesen, „weil sie so stark in der Gestik und Mimik sind“. Sie seien offen gewesen und wollten sich unterhalten. „Hörende könnten ruhig neugieriger auf uns sein“, sagt Fries.