Der Löwe brüllt noch

Dass der nigerianische Autor Wole Soyinka verehrt wird, ist kein Wunder: 1986 erhielt er als erster Schriftsteller des afrikanischen Kontinents den Literaturnobelpreis. Viele halten ihn für den wichtigsten Literaten Afrikas. Seine klare politische Meinung und seine deutliche Sprache sind im Alter nicht milder geworden – ganz im Gegenteil. Der Schriftsteller mit der schlohweißen Afro-Frisur wird am 13. Juli 90 Jahre alt und hat sich zum politischen Gewissen seines Heimatlandes entwickelt. Immer wieder protestiert er gegen die Macht von Militärs und gegen korrupte Politiker.

Bei Bedarf werde er auch kein Blatt vor den Mund nehmen, den derzeitigen Präsidenten Bola Tinubu zu kritisieren, obwohl „wir zusammen im Schützengraben lagen“, wie die nigerianische Tageszeitung „This Day“ ihn Anfang des Jahres zitierte.

Soyinka spielte damit auf seinen und Tinubus Widerstand gegen den Militärdiktator Sani Abacha an. Abacha beherrschte das Land von 1993 bis zu seinem Tod 1998 und verhängte gegen den Literaten die Todesstrafe, Soyinka entkam 1994 nur durch die Flucht ins US-amerikanische Exil. Dort hatte er Gastprofessuren an mehreren Universitäten inne, kehrte aber 1998 nach Nigeria zurück.

Dass in einer Diktatur politischer Widerstand einen hohen Preis hat, hatte Soyinka schon vorher erfahren: Während des nigerianischen Bürgerkriegs im Bundesstaat Biafra setzte er sich für einen Frieden zwischen den rivalisierenden Parteien ein. Zur Strafe für seine Friedensbemühungen wurde er von der Zentralregierung festgenommen und zu zwei Jahren Einzelhaft verurteilt. Im Gefängnis schrieb er Dichtungen, die er unter dem Namen „Poems from Prison“ veröffentlichte. Später verarbeitete er seine Hafterfahrungen in seinem Buch „Der Mann ist tot: Gefängnisvermerke“, das 1972 im Original erschien.

Literatur, politisches Denken sowie der Kampf für Demokratie und Menschenrechte gingen bei Soyinka zeit seines Lebens Hand in Hand. Er verfasste mehr als 30 Theaterstücke, Romane, Gedichtbände und Essays, die weltweit übersetzt und aufgeführt wurden.

Häufig thematisiert er Konflikte der neuen nigerianischen Gesellschaft. In seiner Heimat wurde er vor allem mit seinen Theaterstücken bekannt, von denen viele das mythologische Erbe des Yoruba-Volkes aufgreifen, dem Soyinka angehört. In seinem autobiographischen Roman „Aké. Jahre der Kindheit“ (1981) verarbeitet er literarisch eigene Erinnerungen. Er wurde als Sohn eines Volksschulrektors und einer Geschäftsfrau in Abeokuta im damals britisch verwalteten Westnigeria geboren, studierte später im britischen Leeds Literatur- und Theaterwissenschaft.

In seinem Essayband „Die Last des Erinnerns“ von 1999 geht es um Vergangenheitsbewältigung, um Entschädigung und Versöhnung. Soyinka schreibt über koloniale Ausbeutung und Sklaverei genauso wie über Verbrechen der postkolonialen, afrikanischen Militärdiktaturen. Die Forderung nach materiellen Reparationen der einstigen europäischen Kolonialmächte hielt er bereits vor Jahrzehnten für durchaus berechtigt. Soyinka widersteht aber der Versuchung, ausschließlich die europäischen Eroberer für die Missstände auf dem afrikanischen Kontinent verantwortlich zu machen.

2017 zerstörte er als Protest gegen die Ernennung von Donald Trump zum US-Präsidenten seine Green Card. Das bezeichnete er als eine persönliche Entscheidung, zu der er niemanden ermutigen wolle.

Im Alter von 87 Jahren veröffentlichte Soyinka schließlich seinen ehrgeizigsten und umfangreichsten Roman, eine politische Satire und sarkastische Abrechnung mit seiner Heimat Nigeria: „Die glücklichsten Menschen der Welt“. Darin geht es um alle Übel, die das heutige Nigeria plagen: Terrorbanden und religiöse Sekten, politische Komplotte, familiäre Intrigen, Bestechung und Erpressung.

Dass die Bevölkerung im Norden Nigerias seit Jahren von der islamistischen Boko-Haram-Miliz terrorisiert wird, treibt Soyinka um. Für das Erstarken der Terrorgruppe macht er führende nigerianische Politiker mitverantwortlich. In einem Interview mit dem britischen Sender Channel 4 sagte er 2016: „Es gab Politiker, die unterstützt haben, was Boko Haram machte. In ihrem Machthunger waren sie bereit, alles zu opfern.“ Inzwischen sei Boko Haram den Politikern, die sie geschaffen hätten, längst über den Kopf gewachsen.

Kurz vor seinem 90. Geburtstag räumte er ein, dass er allerdings an einer Sache im Leben gescheitert sei. „Manchmal habe ich mich gefragt: Warum hast du nicht gelernt, in Würde zu altern?“, wird er von der nigerianischen Tageszeitung „This Day“ zitiert. „Das ist eine Sache, die ich nicht geschafft habe.“ Und der zum dritten Mal verheiratete Vater von vier Kindern fügte hinzu: „Mit würdevoll meine ich, sich hinzusetzen, die Füße hochzulegen, sich von seinen Kindern oder Enkeln betreuen zu lassen und die Welt einfach an sich vorbeiziehen zu lassen.“