Der Fenster-Fall von Oberammergau

Seit bald hundert Jahren ist dieses bunte Glasfenster Teil der evangelischen Kreuzkirche Oberammergau: Höhnisch feixend umringen darauf drei Häscher den gefesselten und mit einer Dornenkrone malträtierten Jesus. Ihre Gesichter sind Prototypen des Juden-Klischees, wie sie in Propagandablättern wie der NS-Hetzschrift „Der Stürmer“ gezeigt wurden. Der linke Peiniger trägt, damit es jeder begreift, dunkelgelbe Schuhe auf hellgelbem Grund. Seit Hunderten von Jahren ist das die Farbe, die von Antisemiten synonym fürs Judentum verwendet wird.

Seit ihrer Einweihung am 28. Juli 1928 also gibt es diese Darstellung in der evangelischen Kirche im Passionsort Oberammergau, der sich seit Jahrzehnten an seiner eigenen Geschichte von Judenfeindschaft in Text und Inszenierung der Passionsspiele abarbeitet. Doch erst zur letzten Passion 2022 wurde das Fenster ein Thema: Amy-Jill Levine, Professorin für Neues Testament und Jüdische Studien an der Hartford University/USA, schaute bei einem Besuch auch bei Kreuzkirche vorbei, gemeinsam mit dem Beauftragten für christlich-jüdischen Dialog der bayerischen Landeskirche, Axel Toellner. Ihr fiel das unscheinbare Fenster ins Auge – so kam der Ball ins Rollen.

Schnell wurde beschlossen, das Thema in einem größeren Kontext aufzugreifen: Eine Arbeitsgruppe formierte sich mit dem Ziel, alle evangelischen Kirchen in Oberbayern und darüber hinaus unter die Lupe von „antisemitischer Bildkunst“ zu nehmen. So sollen – neben den bekannten Fällen wie den „Judensau“-Darstellungen an der Nürnberger Sebalduskirche oder dem Heilsbronner Münster – auch Darstellungen gefunden werden, die bislang niemand bemerkt hat.

Denn das ist ja die Crux im Fall der Kreuzkirche, die jetzt auch der Ortsgemeinde zu schaffen macht: „Fast hundert Jahre ist niemandem dieses Fenster aufgefallen“, sagt Pfarrerin Heike-Andrea Brunner-Wild, die erst seit Mai 2023 in der Gemeinde tätig ist. Selbst die Experten des landeskirchlichen Kunstreferats, die bei der umfassenden Neugestaltung der Kreuzkirche 2016 beteiligt waren, stutzten nicht. Damals hätten technische Fragen im Mittelpunkt gestanden, sagt der Kunstbeauftragte der bayerischen Landeskirche, Helmut Braun – der Inhalt des Fensters habe tatsächlich keinen Anstoß erregt. Jetzt solle ein Verzeichnis belasteter Darstellungen in evangelischen Kirchen und Hilfen für betroffene Gemeinden erarbeitet werden: „Wir sind für diese Thematik sehr offen“, so Braun.

Angesichts der Blindheit auf allen Ebenen sei im Kirchenvorstand bei den ersten Diskussionen Betroffenheit und auch „ein Stück Scham“ zu spüren gewesen, sagt Brunner-Wild. Alle seien sich einig gewesen, dass die Gemeinde die Geschichte des Fensters „in sensibler Art und Weise“ aufarbeiten müsse.

Die Pfarrerin selbst ist erstmal in die Archive gestiegen, um die Geschichte der Kirchenfenster zu erforschen. Die Ergebnisse bleiben trotz umfangreicher Recherche dürftig: Ein Professor der Akademie für grafische Künste in Leipzig, Paul Horst-Schulze (1876-1937), hat die Fenster entworfen. Über die politische Gesinnung des Pfarrerssohns ist nichts bekannt; seinen Stil bezeichnete eine Kunstzeitschrift als „Mix aus Spätgotik und germanisierendem Jugendstil“. Weil er seit 1916 ein Sommerhaus in Murnau besaß, gab es wohl Kontakt zum Architekten der Kreuzkirche, Gustav Reutter (1894-1971). Der wiederum wird in der Stadtbiografie als deutschnational gesinnt beschrieben: Reutter war ab 1933 NSDAP-Mitglied, Gemeinderat in Murnau und SA-Rottenführer.

Ob Reutter den Auftrag für die Kirchenfenster mit einschlägigen Vorgaben verbunden hat, bleibt im Dunkel der Geschichte. Wahrscheinlicher ist, dass sich in Horst-Schulzes Geißelungs-Szene der „ganz normale“ Antisemitismus der damaligen Zeit widerspiegelt.

Nach dem ersten Schreck über die Entdeckung hat sich der Kirchenvorstand der Oberammergauer Protestanten beraten und einen Fahrplan zur Aufarbeitung des Fenster-Falls in der Kreuzkirche beschlossen. Klar ist: Das Fenster bleibt, wo es ist. „Es ist ein kunsthistorisches Dokument der damaligen Zeit, wir können es nicht ausradieren und so tun, als hätte es nie existiert“, sagt Heike-Andrea Brunner-Wild. Stattdessen wolle man eine Diskussion darüber anstoßen, „wie selbstverständlich antijüdische Klischees damals in die Kirche eingewandert sind“.

Als erstes soll nun bis Ende des Jahres eine Texttafel für den Eingangsbereich der Kirche konzipiert werden, die auf das Fenster hinweist, sich von jeglichem Antisemitismus distanziert und die weiteren Schritte der Aufarbeitung aufzeigt. Dazu gehört laut Brunner-Wild zunächst der Dialog mit Kirchenbesuchern und Spezialisten der Landeskirche sowie mit Akteuren in Oberammergau: mit den Glaubensgeschwistern der katholischen Kirche, mit den Gästeführern und mit dem viermaligen Spielleiter Christian Stückl, der in einem jahrelangen Prozess selbst die alte Passionsinszenierung von Antijudaismen befreit hat. Grundsätzlich sei er dafür, das Fenster zu entfernen, sagte der 62-Jährige auf Anfrage des Evangelischen Pressediensts (epd), denn die Darstellung sei „klar von der antisemitischen Tradition bestimmt“. Aber auch die in Oberammergau geplante Kontextualisierung sei ein „richtiger Ansatz“, so Stückl: „Wir haben zu unserer Geschichte zu stehen.“

Im nächsten Schritt will die Gemeinde eine öffentliche Veranstaltungsreihe mit Vorträgen und Workshops rund um die Fenster-Frage anbieten. „Das richtet sich an alle Interessierten, die sich dabei informieren und ihre Ideen einbringen können“, sagt die Pfarrerin. Bis zum 100. Jubiläum der Kirchweih am 28. Juli 2028 soll der Dialogprozess beendet sein. Als Ergebnis wünscht sich Brunner-Wild eine neugestaltete Kirchenbroschüre und im Idealfall den Auftrag für ein neues, zusätzliches Kunstwerk als Gegenüber zu dem antisemitischen Fenster.

Fenster-Entdeckerin Amy-Jill Levine findet die Pläne der Oberammergauer Gemeinde „brillant“. Der erste gute Punkt sei, „dass man das Bild als antisemitisch anerkennt und das Problem nicht leugnet“, sagte sie dem epd. Auch sie sei gegen eine Auslöschung der Vergangenheit; besser sei eine Kontextualisierung solcher Bilder: „In einer kirchlichen Umgebung kann das Fenster zu einem Zeichen für die Notwendigkeit der Buße, für Wachsamkeit gegenüber Vorurteilen und Fanatismus werden und zu einer Warnung, dass und wie wir alle gefährdet sind, andere zu diffamieren.“ (00/2020/04.07.2024)