DDR-Bürgerbewegung: Wie sich das „Neue Forum“ in der Prignitz gründete
Am 17. Oktober 1989 trafen sich zum ersten Mal drei Menschen im Gemeindehaus in Falkenhagen in der Prignitz. Das „Neue Forum“ entstand – und wurde zum Teil der Friedlichen Revolution.
„Nichtwähler, Verteilung nicht genehmigter Symbole, Westkontakte, Organisator Neues Forum“, so heißt es in den Stasi-Akten von Ulrich Preuß. Während der DDR-Diktatur hatte sich der Pfarrer der Kirchengemeinde Falkenhagen in der Ost-West-Jugendarbeit engagiert, in seiner Jungen Gemeinde die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ verteilt und schließlich das c ins Leben gerufen.
Nach 1990 arbeitete er als Gemeindevertreter-Vorsteher und stellvertretender Bürgermeister seines Ortes mit und mischte sich an zahlreichen Stellen politisch und kirchlich ein. Und heute? „Es gibt viel Frust in der Gesellschaft, aber wir haben verlernt, miteinander zu diskutieren“, bedauert Ulrich Preuß. Das durfte er schon anders erleben – vor 35 Jahren in der Zeit des Umbruchs: „Bei aller Unterschiedlichkeit waren wir immer darum bemüht, sachlich und fair miteinander zu sprechen“, so erinnert er sich an die Anfänge des
Neuen Forums in der Prignitz.
Aus drei Menschen wurden 2.000
Am 17. Oktober 1989 hatte er zu einem ersten Infoabend in sein Gemeindehaus nach Falkenhagen eingeladen. „Nur drei Menschen aus dem Dorf trauten sich heraus“, erinnert er sich. Zum zweiten Treffen eine Woche später kamen schon Hundert aus der ganzen Region. In Pritzwalk fanden sich dann zum ersten Friedensgebet am 6. November 2.000 Menschen zusammen.
Jürgen Kuhnt hatte die Versammlung als Mitglied der dortigen Kirchengemeinde bei der Volkspolizei angemeldet. Der Superintendent verweigerte zunächst die Öffnung der Kirche, beugte sich dann aber den Pritzwalker Gemeindegliedern, die klarmachten: „Die Schlüsselgewalt haben wir.“ Anschließend seien sie durch die Stadt gezogen, vorbei auch an der Dienststelle der Stasi, berichtet Kuhnt, der Anfang 1984 einen Monat in Haft verbringen musste, weil er den Dienst mit der Waffe als Reservist verweigert hatte.
Ein Stasi-Mitarbeiter unter den Engagierten
Dass die Stasi alle ihre Aktivitäten im Blick hatte, war den Organisatoren bekannt. Dass sich aber unter den engsten Engagierten der Kirchengemeinde auch ein inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit befand, stellte sich für Ulrich Preuß erst viel später schmerzlich heraus, als er seine eigene Stasi-Akte las. „Eine ehrliche Aufarbeitung hat in unseren Kirchenkreisen nicht stattgefunden“, so Ulrich Preuß. So ergriff er selbst die Initiative und sorgte dafür, dass eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben wurde. Das Ergebnis unter dem Titel: „Und wir haben ja auch diesen Staat überdauert…“ von Sebastian Stude erschien 2016 im Rahmen der Schriftenreihe der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur.
Sie wollten Konsum, nicht Freiheit
Zur ersten Vollversammlung des Neuen Forums am 21. November 1989 kamen nur noch Wenige. „Die Entwicklung hat uns überholt“, so Ulrich Preuß. „Viele wollten den Konsum, nicht die Freiheit. Die meisten haben sich nicht wirklich für Demokratie interessiert“, sagt er bedauernd. Als die D-Mark am 1. Juli 1990 eingeführt wurde, läuteten Menschen aus seiner Kirchengemeinde, während er im Urlaub war, die Glocken. „Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein. Die haben nicht verstanden, in welche Falle sie da tappen!“
Nicht die Wiedervereinigung sei das Anliegen des Neuen Forums gewesen, „sondern eine bessere DDR“, betont Preuß. In seiner Rede beim Besuch in der Evangelischen Jugend in der Partnergemeinde in Mosbach in Baden-Württemberg am 29. Dezember 1989 hatte er gefragt: „Welcher Stern wird uns wohl in Zukunft leuchten? Weder der rote Stern des Kremls noch der glänzende Stern von Daimler-Benz bieten für mich eine menschlich-freundliche Lösung an. Für mich ist der Stern über Bethlehem, der auf eine andere Lösung hinweist, zukunftsweisend. Mir scheint, dass ein Wertewandel von innen herkommen muss, um eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewirken, nicht umgekehrt.“
Global denken, lokal handeln
Ulrich Preuß ging 2004 als Pfarrer in den Ruhestand, blieb aber bis vor wenigen Jahren aktiv in der Bläser*innenarbeit und der Notfallseelsorge, die er ab 2005 aufgebaut hatte. In seiner Gemeinde hat er neben seiner Tätigkeit als Pfarrer auf der politischen Ebene Einiges erreicht, etwa, dass in seiner Ortsgemeinde ein Baugebiet und ein Gewerbegebiet erschlossen werden konnten – immer in der Hoffnung, etwas für den Zusammenhalt der Menschen zu tun. „Global denken, lokal handeln“ – das war und ist die Maxime von Ulrich Preuß.
So wie er und Jürgen Kuhnt setzen sich viele der damals Aktiven noch heute politisch ein und sind in ihren Kirchengemeinden aktiv, etwa bei der seit 1980 in Pritzwalk jährlich stattfindenden Ökumenischen Friedensdekade. Auch in diesem Jahr wird es die zehntägige Veranstaltung vom 10. bis 20. November wieder geben. Sie steht unter der Überschrift: „Erzähl mir vom Frieden.“