Das Verlöschen braucht Zeugen

Das Klug werden im Angesicht des Todes

Das Verlöschen braucht Zeugen

Wieso werden wir klug, wenn wir bedenken, dass wir sterben müssen, wie es die Bibel sagt?

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Psalm 90,12

Von Elizabeth Schmidt-Pabst

Am Freitag vor dem Ewigkeitssonntag findet jedes Jahr eine Gedenkfeier für Verstorbene im Lazarus Hospiz Berlin-Mitte statt. Alle Menschen, die im ­vergangenen halben Jahr bei uns im Pflegeheim oder im stationären Hospiz verstorben sind, werden bedacht. Aber auch diejenigen, die von ehren­amt­lichen Hospizbegleiterinnen und Hospizbegleitern des Ambulanten Lazarus Hospizdienstes bis zum letzten Atemzug ­begleitet worden sind.

Namen werden vorgelesen. ­Kerzen werden angezündet. Der ­Lazarus-­Hospiz-Chor singt. An jedes ­Leben wird erinnert, jedes Menschen gedacht. Ein ­gelebtes Leben, ein Sterben, eine Kerze, ein Lied. Viele ältere Menschen darunter, aber nicht nur. Manche sind im Kreise ihrer Liebsten von dieser Welt gegangen. Manche im Kreise der Pflegenden oder ehrenamtlichen Hospiz­begleiter*innen.

Die Einsamkeit und soziale Isolation mancher Menschen am Lebensende ist erschreckend. Mir wird ­immer wieder bewusst, wie wichtig es ist, dass wir nicht aus dem Augen verlieren: Wir sind soziale Wesen. Das Sterben braucht ebenso wie eine Geburt „Schwellenbegleiter“. Unser Herz verpflichtet uns, Zeuge dieses Übergangs sein zu wollen. Das Verlöschen dieses irdischen Lebenslichts braucht einen Zeugen.

Was bedeutet es, mit dem Tod zu leben?

Seit fast 15 Jahren darf ich in meiner Arbeit Menschen an der Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits begleiten. Oft werde ich gefragt, was uns ­Hoffnung gibt, wenn wir sterben. Seit Corona ist uns der Tod näher ­gerückt. Seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine noch näher. Diese Frage nach der ­Hoffnung wird immer wichtiger, die Ängste unmittelbarer, unsere Vergänglichkeit bewusster.

Es sind plötzlich nicht „nur“ die alten Menschen, die sterben und Krieg ist nicht mehr ganz weit weg. Wegschieben oder verdrängen geht nicht mehr. Krieg, Flucht, Pandemien, ­Klimakatastrophen, Wasserknappheit und Dürre. Es gibt keine „unbeschwerte Jugend“ mehr. ­Science Fiction ist nur noch Science Future. Was einst im Kino lief, ist jetzt möglicherweise unsere Zukunft. Wie leben wir mit so viel Gefahr und Bedrohung? Was gibt uns Hoffnung angesichts von so viel Zerstörung und Ohnmacht? Was bedeutet es, mit dem Tod zu leben? Warum Ewigkeitssonntag und nicht Totensonntag? Ich schreibe vom Zeuge-Sein des Übergangs. Dass unser Herzen uns dazu verpflichten, dabei sein zu wollen.

Warum? Warum machen Begegnungen an dieser „Drehtür“ uns so andächtig? Das Kommen einer Seele und das Gehen einer Seele berührt uns wie sonst nichts auf dieser Welt. Beides macht uns das Wunder dieses Lebens bewusst.

Beim Sterben ist die Tür zum ­Mysterium geöffnet, und wir dürfen ihm für einen Moment ganz nah sein, ohne mitzugehen. Wir dürfen erkennen, dass etwas geht und etwas bleibt.

Was bleibt? Was geht? Der Körper bleibt zurück. Plötzlich ist es „bloß“ ein Körper. Wir nennen diesen dann eine Leiche. Ein Körper ohne leibliches Lebenslicht. Wir merken, dass nicht mehr in diesem Körper zu finden ist, was wir geliebt haben. Nicht mehr daran gebunden. Nicht dort verortet. Der Körper eine Hülle.

Ist „es“ aber weg? Nein, die Liebe bleibt. Die Beziehung auch. Seltsam, aber wahr. Es wandelt sich. Ewigkeitssonntag. Totensonntag. Wir ­gedenken dem Leben, das beendet ist. Wir erinnern uns an das, was ewiglich ist. Gott ist ewig. Die Liebe ist ewig. Keine Trennung. Manche sagen, er oder sie ist jetzt bei Gott. Wir sind immer bei Gott. Bloß ohne diese Hülle mögen wir es vielleicht noch unmittelbarer ­erfahren.

Wir müssen uns nicht fürchten

Meine Arbeit zeigt mir jeden Tag, dass das „Schlimmste“, was uns ­passieren kann, ist, dass wir sterben. Je mehr ich durch meine Arbeit „mit reinschauen“ darf, desto mehr erkenne ich, dass es dort nichts gibt, wovor wir uns fürchten müssen. Sterben ist nicht „schlimm“. Schmerzhaft? Öfter. Traurig? Ja, auch. Aber auch berührend, be­wegend, sogar freudig. Menschen zeigen uns in ihrer letzten Lebensphase immer ­wieder, dass wir bei allem Traurigen auch ­lachen dürfen. ­Sterben ist nicht „schlimm“. Viel schlimmer ist es, die Liebe und Dankbarkeit zum Leben und zu den Menschen in unserem Leben zurückgehalten zu haben.

Was bedeutet es, klug zu werden, indem wir bedenken, dass wir sterben müssen? Es bedeutet, dass wir motiviert werden, nichts an Liebe und Dankbarkeit zurückzuhalten. Es bedeutet: Wenn wir an uns heran­lassen, dass niemand, der auf die Erde geboren wird, hier lebendig wieder rauskommt, sind  wir sowohl dem Leben als auch dem Sterben ­gegenüber gelassener. Es wird uns bewusst, dass wir unseren Körper nicht mitnehmen.

Sich dessen wirklich bewusst zu sein, macht das Leben leichter. Es rückt das Wesentliche in den Fokus. Es macht, dass das Herz sich an den bunten Herbstblättern erfreut. Es bewirkt, dass das Lächeln der Verkäuferin uns ansteckt und wir zurücklächeln. Es zeigt uns, dass obwohl die Zeiten schwer sind, sie nicht ewiglich an­halten. Auch wenn Krieg, Corona und Klimakrise ist. Lasst uns also  immer das im Gedächtnis halten, was wirklich ewiglich ist.

Der nächste Kurs zur ehrenamt­lichen Hospizbegleiter*in beginnt im Mai 2023.  Bewerbungen sind schon jetzt willkommen. ­Weitere Informationunter: www.lazarushospiz.de oder unter lazarushospiz-ambulant@lobetal.de