Das Sarajevo-Attentat – Auswirkungen sind bis heute spürbar

Vor 110 Jahren wurden auf dem Balkan die Weichen für den Ersten Weltkrieg gestellt. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Ein Besuch in Belgrad, Sarajevo und Wien.

Wenn der Belgrader Erzbischof Ladislav Nemet Besucher empfängt, verweist er auf eine Gravur in den Stiegen seines Bischofssitzes: “Pax”, steht dort in Stein: Frieden. “Den brauchen wir hier besonders”, sagt der Monsignore lächelnd. Denn die alten Mauern in der Svetozara Markovica Nummer 20 dienten einst als Botschaft des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs in Serbien. Hier stellten Diplomaten und Politiker die Weichen für den Ersten Weltkrieg.

Sarajevo, 2024: Senad Kuc steht über eingegossenen Fußabdrücken. Es ist jene Stelle, von der aus der junge Polit-Aktivist Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie erschoss. Das Attentat vor 110 Jahren gilt als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Bereits 1878 wurde Bosnien zum österreichischen Protektorat. “Die Region blieb offiziell Teil des Osmanischen Reiches, wurde jedoch von Österreich-Ungarn besetzt und verwaltet – was de facto einem Verlust der (osmanischen) Kontrolle gleichkam”, erzählt Kuc, Kurator des “Sarajevo-Museum 1878-1918”.

1908 erfolgte der vollständige Anschluss an das Kaiserreich. Zunächst sei die Angst im ethnisch und religiös gemischten Sarajevo groß gewesen: Orthodoxe und Muslime fürchteten, von der katholischen Erbmonarchie verschluckt zu werden. “Bis zu 20 Prozent der Muslime emigrierten ins Osmanische Reich”, erzählt Kuc. Erst später, als mit dem Kapitalismus aus Wien auch neuer Wohlstand kam, schöpften die Bosnier Vertrauen.

Allerdings bereitete der politische Umbruch auch anti-österreichischer Propaganda aus dem Nachbarland Serbien den Weg: – und die verunsicherte serbische Minderheit suchte im Vielvölkerstaat Bosnien abermals ihre Wurzeln. Princip stammte aus einer verarmten Familie. Für nationalistische Untergrundorganisationen wie die Schwarze Hand und deren Verbündeten Junges Bosnien waren junge ethnische Serben wie er eine leichte Beute.

Der 28. Juni 1914 war ein Tag folgenschwerer Verstrickungen. Sieben Mitglieder von Junges Bosnien haben sich entlang des Flusses Miljacka positioniert, der Route des Monarchen-Konvois. Als Franz Ferdinand vorüberrollt, wagt Nedeljko Cabrinovic den ersten Angriff: Seine Granate prallt am Wagen ab, verletzt Wachen und Umstehende. Der Thronfolger und seine Frau setzen ihre Reise fort. Beim Verlassen des historischen Rathauses von Sarajevo soll Franz Ferdinand schon ahnen, dass sie “heute noch einige Kugeln bekommen” würden, so die Überlieferung. Doch schon am Vorabend hatte er verkündet: “Unter einen Glassturz lasse ich mich nicht stellen.”

Spontan entscheidet der Thronerbe, sein Programm zu unterbrechen und seinen beim ersten Anschlag verletzten Oberstleutnant im Krankenhaus zu besuchen. Auf Höhe der Lateinerbrücke biegt der Konvoi falsch ab. Ein folgenschwerer Fehler. Als der Wagen mit dem kaiserlichen Ehepaar zum Zurückschieben ansetzt, kommt er für einen Augenblick zum Stehen – keine zwei Meter vor Gavrilo Princip. Der 19-Jährige feuert auf Franz Ferdinand und Sophie, beide sterben binnen Minuten.

2014 ist Princip wiederauferstanden: ideologisch und auch in Bronze gegossen. Zum 100. Jahrestag des Attentats versammelten sich ethnisch serbische Politiker und Nationalisten in Ostsarajevo, dem serbisch kontrollierten Teil der Hauptstadt. Dort weihten sie eine zwei Meter hohe Princip-Statue ein. Schließlich galten dessen Schüsse nicht Europa, betonte der bosnische Serbenführer Milorad Dodik, sondern der “Freiheit”.

Viele Serben wollen in Princip bis heute keinen Mörder erkennen. Ein “Freiheitskämpfer” sei er gewesen. Doch in den Augen von Historiker Kuc ist die Princip-Skulptur einzig ein “Zeugnis für die schlechten Beziehungen”, die nach den Jugoslawien-Kriegen der 1990er Jahre noch immer auf dem Westbalkan herrschen. Jede Volksgruppe dichte sich ihre eigene Geschichte zusammen; keine wolle Argumente hören, die ihrer patriotischen Version entgegenstehe.

Wien, Heeresgeschichtliches Museum: Auf der Chaiselongue, auf der Franz Ferdinand seinen letzten Atemzug tat, liegt dessen blutverkrustete Uniform. Schräg gegenüber steht sein Wagen, ein Gräf & Stift Doppelphaeton, Baujahr 1910. In beiden Relikten können Besucher heute noch das Einschussloch erkennen; im metallenen Heck zusätzlich einen Granatsplitter vom ersten, erfolglosen Anschlag.

Vor allem das Auto, eines der “Leitobjekte” des Museums, stehe “nicht nur für das persönliche Leid der Betroffenen, sondern genauso für das Ende der Habsburgermonarchie und nicht zuletzt für die Entfesselung eines Krieges aus nationalistischen und imperialistischen Motiven”, sagt Museumsdirektor Georg Hoffmann. Im Heeresgeschichtlichen Museum markiere es heute – auch räumlich – den Beginn der Ausstellung zur “menschengemachten ‘Urkatastrophe’ des 20. Jahrhunderts”.