Das künstlerische Gewissen Frankreichs

Die Darstellung des CDU-Spitzenkandidaten Helmut Kohl vor der Bundestagswahl 1976 in „Der Spiegel“ als Birne sorgte für Furore, und die Satirezeitschrift „Titanic“ pflegte Hans Traxlers Kohl-Birne als Markenzeichen. Neu war die Idee nicht. Der französische Zeichner Honoré Daumier (1808-1879) stellte 1834 in der Zeitung „La Caricature“ seinen König Louis-Philippe als Birne dar. Der Hintersinn: Das französische Wort für Birne, poire, bedeutet auch Tölpel. Das Städel-Museum in Frankfurt am Main zeigt 120 Werke des französischen Künstlers und Karikaturisten vom 24. Januar bis 12. Mai.

„Daumier ist der komplexeste Künstler Frankreichs des 19. Jahrhunderts und ein grandioser Zeichner, Maler und Bildhauer“, erläutert Direktor Philipp Demandt. Er habe die spannende Zeit Frankreichs mit vielen Erfindungen, erkämpften Republiken und restaurativen Monarchien wie kein anderer beobachtet und kommentiert. Die Ausstellung „Honoré Daumier. Die Sammlung Hellwig“ sei „eine Schau, die für alle Besucher sinnliches Vergnügen bereithält, den Geist schärft und zur Auseinandersetzung mit Grundfragen unserer Zeit einlädt“.

Daumier knüpfte sich etwa kriegstreiberische Politik und die Nutzung moderner Technik für das Militär vor. Eine Zeichnung von 1867 zeigt den Tod als Gerippe mit Sense, der eine dampfende Lokomotive besteigt. Alle drei vorgeschlagenen Bildunterschriften kassierte die Zensur ein. Sie wollte weder veröffentlicht haben „Verlegung der Friedhöfe“, nämlich an die Front, noch „Hurra! Die Toten fahren schnell“ oder „Madame zieht um“, gemeint ist der Tod. Die Zeichnung blieb unveröffentlicht. Einige der Karikaturen wirken wie eine Vorausschau der Zukunft: „Europäisches Gleichgewicht“ heißt eine Zeichnung, darauf balanciert die Göttin Fortuna auf einer Kugel, an der bereits die Zündschnur glimmt.

„Honoré Daumier war in den 43 Jahren seines Schaffens der Chronist der französischen Zeitgeschichte“, sagt der Frankfurter Mäzen Hans-Jürgen Hellwig, aus dessen bedeutender Sammlung die Werke stammen. „Es gab in Europa keinen vergleichbaren Künstler.“ In den begrenzten zensurfreien Jahren habe er in seinen Karikaturen die Politik aufgespießt, in den anderen Jahren knüpfte er sich in Genrezeichnungen Alltagsszenen vor. Seine Zeichnungen veröffentlichte er in den Zeitungen „La Caricature“ und „Le Charivari“.

Daumier habe für die Erkämpfung der Republik und der liberalen Freiheiten Partei ergriffen, erklärt Hellwig. Einmal habe er deshalb im Gefängnis gesessen. Doch mit seinen Karikaturen habe er sogar den König Louis-Philippe „kleingekriegt“: Dieser habe schließlich auf seinen in drei Richtungen gezwirbelten Bart und den Zylinder verzichtet, weil er damit durch Daumiers Zeichnungen zu einer öffentlichen Spottfigur geworden sei.

Nicht nur als Karikaturist sei Daumier von Bedeutung gewesen, er sei auch ein großer Künstler gewesen, erklärt die Städel-Kuratorin Astrid Reuter. Seine Bilderfindungen seien genial, seine Perspektiven kühn, seine Bildausschnitte neuartig gewesen. Neben Lithografien und Zeichnungen sind in der Schau auch wenige Skulpturen zu sehen.

Hellwig wird seine gesamte Daumier-Sammlung dem Städelschen Museums-Verein im Juni zu dessen 125-jährigen Bestehen schenken. Die Sammlung besteche durch ihre Qualität und bilde die ganze Breite des künstlerischen Gesamtwerks von Daumier ab, so das Museum. Der Bestand umfasst 4.200 Lithografien und Holzstiche, 19 Zeichnungen, zwei Gemälde und 36 Bronzeplastiken, viele von ihnen seien noch nie ausgestellt worden. Der Verein wird die Sammlung dem Museum als Dauerleihgabe überlassen. Das Städel werde dadurch „zu einem der wichtigsten Orte der Daumier-Forschung in Deutschland“, betont Direktor Demandt.