„Das gesellschaftliche Klima ist anstrengend geworden“

Aggressivität und Hassbotschaften nehmen zu in Deutschland – das beobachtet der Göttinger Soziologe Berthold Vogel. Die Pandemie hat offenbar viele Hemmschwellen fallen lassen. Doch die Pöbler und Rüpel sind in der Minderheit, betont der Leiter des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Vogel ruft die Bürger auf, für ein solidarisches Miteinander einzutreten – nicht nur an Weihnachten.

epd: Herr Professor Vogel, in Kassel haben Jugendliche vor kurzem einen Mann im Nikolauskostüm angegriffen. Auch im Alltag erleben wir gefühlt immer wieder, dass Menschen ihrer Aggressivität freien Lauf lassen: im Straßenverkehr, an den Schulen oder in der Schlange an der Supermarktkasse. Was ist da los? Erleben wir eine Verrohung in unserem Land?

Vogel: Nein, so pauschal kann man das nicht sagen. Das würde auch sehr viel von dem wegnehmen, was wir an Engagement und Hilfsbereitschaft in unserer Gesellschaft sehen. Und es würde diejenigen wichtiger machen, die versuchen, über Gewalt und Hass mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Generell schenken wir den Destruktiven und den Untergangspropheten viel zu viel Aufmerksamkeit. Es ist klar die Minderheit, die sich so verhält.

epd: Was sagt die Forschung dazu?

Vogel: Studien und Recherchen zeigen zum einen, dass die Bereitschaft zu Aggressivität und Hassbotschaften mit der Pandemie zugenommen haben. Das sind gesellschaftliche Long-Covid-Phänomene ganz eigener Art. Zum anderen sehe ich mit Sorge, dass wir dem Hass immer weniger entgegentreten oder ihn sogar beschweigen – das gilt für Entgleisungen und Gewaltdrohungen auf AfD-Seite, die sich gerade im kommunalen Bereich im Aufwind sehen. Das gilt aber auch für den Jubel zu palästinensischem Terror und Judenhass, den wir an den Universitäten und auf der Straße erleben. Wir lernen in unserer Forschung aber auch viele engagierte Leute kennen, die sich trotz aller Widrigkeiten für ein gutes Miteinander einsetzen. Das zeigt, über welche positiven Zukunftsenergien wir verfügen.

epd: Sind Werte wie Höflichkeit oder Respekt bei uns auf dem Rückzug?

Vogel: Nein, diese Aussage wäre gegenüber der Mehrheit der Menschen hierzulande nicht gerecht. Aber wir spüren den Stress aus Pandemie, Krieg und Krisen. Wohlstandsverluste drohen. Bisweilen hat man den Eindruck, dass jeder Zentimeter der eigenen Position verteidigt wird. Und dabei schwinden bei Einzelnen auch die Umgangsformen. Das gesellschaftliche Klima ist anstrengend geworden, an vielen Orten der Gesellschaft, insbesondere in der Mitte, also bei denen, die zwar nicht übermäßig viel haben, aber deswegen auch jede Art von Verlust fürchten. Dennoch darf nicht jeder Rüpel entschuldigt werden, indem man alle möglichen sozialen Faktoren heranzieht. Jedes Verständnis muss seine Grenzen haben. Und wer durch Wort und Tat Angst und Schrecken verbreitet, der oder die sollte dann auch ein Fall für das Strafrecht werden.

epd: Welche Rolle spielen dabei die digitalen Medien?

Vogel: Auch hier gilt Vorsicht vor dem Pauschalurteil. Aber es ist doch klar: Die Wucht digitaler Medien ist erheblich, und sie hat nicht selten spaltende Wirkung. Je abwegiger die Meinungsäußerung und je rauer der Ton, desto mehr Aufmerksamkeit. Wenn Brutalität siegt, dann im sogenannten Netz. Da wirken ja die Kampagnen der „Bild“-Zeitung aus vergangenen Tagen wie eine Erinnerung an eine gute alte Tante, die immer etwas aus dem Rahmen gefallen ist.

epd: Fördert der westliche Individualismus die Verrohung der Gesellschaft?

Vogel: Wenn Sie damit die „westlichen Werte“ ansprechen, dann muss ich ganz klar sagen: Nein, auf keinen Fall. Im Gegenteil: Freie, demokratische, rechtsstaatliche und plurale Gesellschaften führen mit Sicherheit nicht zur Verrohung. Sie geben den Menschen Handlungsspielräume und Aufstiegsperspektiven, sie ermöglichen Entfaltung und Wahlmöglichkeiten. Autoritäre Diktaturen wie in Russland, Terrorregime wie im Iran oder im palästinensischen Gaza-Streifen, aber auch familiäre Clanstrukturen deformieren Menschen und führen zur Verrohung.

epd: Was sind Gegenkräfte zur Verrohung?

Vogel: Zunächst einmal Menschen, die Brücken bauen und den Dialog suchen, in religiöser oder politischer Hinsicht. Wichtig sind auch stabile öffentliche Institutionen. Dazu zählt ein Rechtsstaat, der seine Prinzipien anwendet und verteidigt, und ein Sozialstaat, der den Menschen Freiheit und Sicherheit gibt. Dazu zählen aber auch positive Erfahrungen in der Nachbarschaft oder solidarische Erfahrungen am Arbeitsplatz. Wenn man sich das alles empirisch anschaut, erkennt man, wie stark diese Gegenkräfte in unserer Gesellschaft sind. Wir müssen daher nicht den Kopf in den Sand stecken. Aber es muss auch klar sein, dass diese Gegenkräfte nicht geschenkt oder gottgegeben sind, sondern wir müssen für sie kämpfen. Zivilcourage für ein solidarisches Miteinander ist heute gefragter denn je.

epd: Kann das Weihnachtsfest uns hier zur Besinnung rufen?

Vogel: Was ich eben beschrieben habe, ist keine Aufgabe, die nur an Weihnachten ansteht. Wer nur noch an Weihnachten zur Besinnung ruft, der hätte schon verloren. Wir müssen heute mehr denn je unsere Freiheit, unsere Demokratie, unseren Sozial- und Rechtsstaat gegen Hetzer, Spalter und Hassprediger verteidigen. Wenn wir das dann auch an Weihnachten tun, umso besser.

epd: Können Sie selbst dem Weihnachtsfest etwas abgewinnen?

Vogel: Aber sicher. Auch wenn das Weihnachtsfest ja schon seit vielen Jahren zwischen klebrigen Glühweinbuden, Online-Versand und allgemeinem Tingeltangel zu versinken droht – die Botschaft bleibt stark und sie wird immer stark bleiben: Weihnachten ist ein Fest der Hoffnung. Es ist das Signal, dass bei allem Dunkel immer wieder neues und helles Licht in die Welt kommt. Und dass wir als Menschen wechselseitig verpflichtet sind, aus dieser Hoffnung etwas zum Nutzen aller zu machen – und nicht nörgelnd die Hände in den Schoß zu legen oder denen zu vertrauen, die sich darauf verstehen, Hass und Ressentiment in unserer Gesellschaft zu bewirtschaften.