Darf kirchliche Kunst Leid zeigen?

Wo liegt die Grenze zwischen Mitleid und Voyeurismus? Fragen wie diese wurden kürzlich bei der Online-Veranstaltung „LEID. Bilderstreit! Was darf man zeigen?“ diskutiert.

Kitsch, Kunst, bildgewordene  Gewaltorgie? Petra Bahr und Thomas Macho diskutierten über die Macht der Bilder.
Kitsch, Kunst, bildgewordene Gewaltorgie? Petra Bahr und Thomas Macho diskutierten über die Macht der Bilder.Uwe Baumann

In der St. Matthäuskirche in Berlin-Tiergarten ist bis Karfreitag eine Raumzeichnung des Berliner Künstlers ZIERVOGEL zu sehen. Der Altar ist verhüllt mit einem weißen Band. Von Weitem sieht es harmlos aus, aber bei näherer Betrachtung fallen grausame Zeichnungen ins Auge: von Mord, Vergewaltigung, Pornografie. „Bilder sind Fallen“, erklärt Pfarrer Hannes Langbein, Kunstbeauftragter der EKBO. Das weiße Band lockt an, um mit einem gigantischen Untotentanz ohne erkennbare Empathie konfrontiert zu werden. In einer Kirche! Darf man das?

Das ist eine der Fragen auf der Online-Veranstaltung „LEID. Bilderstreit! Was darf man zeigen?“ der Evangelischen Akademie zu Berlin Ende März. Die Hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr, ehemalige EKD-Kulturbeauftragte und seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates, diskutiert mit dem Wiener Kulturwissenschaftler und Philosophen Thomas Macho. Es geht um Kriegsbilder, Fotos von hungernden Kindern, Höllenbilder, Hieronymus Bosch. Das Gespräch windet sich dabei spiralförmig um ein sehr christliches „Bild“: das Kreuz, „ein Folterinstrument“ (Bahr), das viele Christen vergoldet um den Hals tragen. Es drücke „die rohe Gewalt des Passionsgeschehens“ aus, doch sei diese Brutalität kein Selbstzweck, sie „eröffnet einen theologischen Raum.“

Leid als Spektakel

„Das Kreuz war auch „ein Instrument zur Ausstellung“, ergänzt Macho. Bei den Sklavenaufständen in der Antike etwa wurden nicht nur Zigtausende getötet, sondern auch Tausende gekreuzigt – ein Spektakel vor Publikum, bei dem manche Opfer tagelang, die Lungen blutgeflutet, ihrem Tod entgegenlitten. „Eine Demonstration von Abhängigkeit“, erklärt der Kulturwissenschaftler, ein machtsicherndes Event der Unfreiheit.

Erst das Christentum, auch wenn in seinem Namen dann andere Gräueltaten begangen wurden, habe eine Umwertung vorgenommen: Vom Zeichen der Demütigung wurde das Kreuz zu einem des Sieges über die Abhängigkeits-Demonstration. Doch dieser Gedankengang leuchtet nicht intuitiv ein. Macho zitiert aus den Erinnerungen Georg-Friedrich Daumers (1800–1875), dem Erzieher des verwilderten, zunächst sprachlosen Findlingsjungen Kaspar Hauser: „Die Kruzifixe in den Kirchen erregten in ihm den ungeheuersten Schauder“. Kaspar ertrug es nicht und flehte, „diese Menschen nicht so zu quälen, sondern von ihren Kreuzen herab zunehmen“.

Grenzen sind fließend

Es habe Jahrhunderte gedauert, erzählt Bahr, bis die Kirche den gefolterten Gott als „anfassbaren Körper“, als Leidenden in einem leidenden Körper zeigte. Nach und nach habe Jesus, etwa durch die Schnitzkunst, ein Gesicht erhalten. Er wurde zum Individuum. Allerdings könne die Grenze zwischen Mitleiden und Voyeurismus fließend sein. „Regen Bilder zur Barmherzigkeit an“, fragt Macho, „oder zu einer Art sadistischen Vergnügens?“ Wie Bahr hat auch er eine Sehnsucht nach bilderlosen Räumen, nach der „andächtigen Erholung der Augen“.

Der temporär grausam verhüllte Altar in der St. Matthäuskirche im Tiergarten sei für Bahr in Ordnung. Wie stets komme es auf den Kontext an. Ob das Störende an Kunstwerken „Gewaltkitsch bleibt“ oder sich in etwas Heilsames verwandelt, entschieden diejenigen, die in der Kirche beten. Macho ist da skeptischer. Er fürchtet, dass „wir uns an die schrecklichsten Bilder gewöhnen können“ und vertraut mehr auf das Wort.

Verlust von Scham

Einig sind sich beide in ihrer Abneigung gegen entwürdigende Kunst. Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat 2016 das Foto eines ertrunkenen Dreijährigen nachgestellt – genauso falsch, findet Bahr, wie das Verhalten fotografierender Schaulustige an Unfallstellen. Es gebe da eine „Schamvergessenheit“. Macho nennt es „Schamverlust“. Er fordert „Misstrauen gegenüber sich selbst“.

Das „Folterinstrument als Ausstellungsobjekt“ wäre demnach durchaus zu hinterfragen, auch wenn es laut Bahr trösten kann, Schreckliches zu zeigen. Die Ostererzählung komme als Thema in der Bildkunst übrigens viel weniger vor als die Passion. Auch das Bild vom leeren Grab sei eigentlich keines, „sondern es versucht, sich ein Bild zu machen von etwas, wovon es kein Bild gibt“. Die Hoffnung des Ostertages bleibt bilderlos.

Nicht nur symbolisch

Macho ergänzt: „Wir werden so strahlen, dass wir kein Licht mehr brauchen – also auch keine Bilder mehr.“ Darauf lässt Bahr sich ein, vom Weglassen des Kreuzes und damit einer „reinen körperlosen Spiritualität“ hält sie jedoch nichts. „Dann müssen wir das Kreuz aber wirklich wahrnehmen“, findet Macho, nicht nur als „ein schönes Symbol“, sondern als „Ausstellungs-, Demonstrations- und Folterinstrument in allen Implikationen und Details“.

Die Passionsausstellung „Younger than Jesus“ des Künstlers ZIERVOGEL in der St.-Matthäus-Kirche im Kulturforum in Berlin-Tiergarten ist noch bis zum 7. April von Dienstag bis Sonntag, 11-18 Uhr, zu sehen. Mehr Informationen und weitere Veranstaltungen der Stiftung St. Matthäus, der Kunst- und Kulturstiftung der EKBO, unter:
www.stiftung-stmatthaeus.de