Bürgergeld-Debatte: Zu viel Populismus, zu wenig Sachlichkeit

Um der wachsenden Armut in unserer Gesellschaft zu begegnen, braucht es keine populistischen Patentrezepte, sondern eine faktenbasierte, sachorientierte Politik, sagt Diakoniepräsident Rüdiger Schuch.

Rüdiger Schuch ist Pfarrer und seit 2024 Präsident  der Diakonie Deutschland und Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung
Rüdiger Schuch ist Pfarrer und seit 2024 Präsident der Diakonie Deutschland und Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und EntwicklungDiakonie/Hoffotografen

In der aufgeheizten Debatte um das Bürgergeld wird versucht, mit populistischen Behauptungen und stigmatisierenden Vorurteilen politisch zu punkten. Das geht auf Kosten der von Armut betroffenen Menschen und ist fahrlässig mit Blick auf den sozialen Frieden und die Stabilität unserer Demokratie.

Die von Teilen auch aus den demokratischen Parteien – wie zuletzt der CDU und der FDP – aktuell erhobene Forderung nach kompletter Streichung von Bürgergeldzahlungen für Menschen, die keine Arbeit aufnehmen wollen, geht an den tatsächlichen Herausforderungen in der Armutsbekämpfung völlig vorbei. Sie spielt stattdessen Menschen im Transferleistungsbezug gegen Menschen im Niedriglohnsektor gegeneinander aus, und schürt Ressentiments gegen aus der Ukraine und anderen Herkunfts­ländern Geflüchtete.

Diakonie-Chef: Wie der wachsenden Armut in Deutschland begegnen?

Dass eine vollständige Kürzung der Transferleistungen mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht in Einklang zu bringen ist, hatte das Bundesverfassungsgericht im Übrigen bereits 2019 geurteilt. Wie hoch die genaue Zahl der sogenannten „Totalverweigerer:innen“ ist, ist statistisch schwer zu ermitteln. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung beziffert sie auf circa 16.000 Personen, also nur etwa 0,4 Prozent der insgesamt 5,5 Millionen Bürgergeldbeziehenden. Der Rechtsstaat muss effektiv gegen Sozialleistungsbetrug vorgehen. Das ist unbestritten. Aber die politische Debatte sollte den Fokus auf die zentrale Frage richten, wie der wachsenden Armut und der sozialen und politischen Ausgrenzung armer Menschen in unserem reichen Land wirksam begegnet werden kann.

Für eine realitätsgerechte Politik hilft ein Blick in die Zahlen: Ein Drittel der Transferleistungsbeziehenden sind Kinder und Jugend­liche. Ihnen und ihren Familien würden eine echte Kindergrund­sicherung und eine bedarfsgerechte Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur helfen. Weitere zwei ­Millionen Menschen stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil sie gravierende gesundheit­liche Probleme haben, weil sie ­Angehörige pflegen, weil sie alleinerziehend sind und keinen Betreuungsplatz für ihre Kinder bekommen oder weil sie sich bereits in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befinden. Fast 800.000 Menschen verdienen außerdem so wenig, dass sie ergänzend Bürgergeld benötigen, um ihr Existenzminimum zu sichern. Sie brauchen keinen zusätzlichen Druck, sondern auskömmliche Löhne.

Schuch: Nachhaltige Arbeitsvermittlung statt bloße Schnelligkeit

Menschen in Arbeit zu vermitteln, erfordert weitere Anstrengungen. Viele haben die Schule abgebrochen oder keinen Berufsabschluss. Sie selbst, aber auch die Arbeitgeber brauchen mehr Unterstützung für eine nachhaltige Integration. Fast die Hälfte der Bürgergeldbeziehenden kommt aus dem Ausland, der größte Teil aus der Ukraine. Die ukrainischen Geflüchteten, die größtenteils mit Hochschul- oder Berufsabschluss nach Deutschland kommen, brauchen ausreichend Sprachkurse, die un­bürokratische Anerkennung von Abschlüssen und Kitaplätze. Hier wäre ein höheres Tempo sehr ­wünschenswert. Dennoch gilt: Es kommt nicht nur darauf an, Menschen schnell in Arbeit zu vermitteln, sondern ihrer Qualifikation entsprechend. Das braucht manchmal etwas mehr Zeit, ist aber nachhaltiger.

Um der wachsenden Armut in unserer Gesellschaft zu begegnen, braucht es keine populistischen Patentrezepte, sondern eine faktenbasierte, sachorientierte Politik. Der sozialpolitische Kompass der Diakonie ist eine der Kernbotschaften des biblischen Zeugnisses, ist Gottes Option für die Armen. Armut und Ausgrenzung zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt und untergraben nach biblischem Verständnis die Grundlagen eines Gemeinwesens. Im Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes findet sich diese Vorstellung wieder. Der Sozialstaat muss der Garant dafür sein, dass ­Armut strukturell und nachhaltig bekämpft wird. Die demokratischen Parteien sollten ihre Politikvorschläge daran orientieren, wie soziale Gerechtigkeit und damit das Vertrauen in die Demokratie am besten gestärkt werden kann. Diese Debatte auf dem Rücken von armutsbetroffenen Menschen zu führen, spaltet unsere Gesellschaft.

Rüdiger Schuch ist Pfarrer und seit 2024 Präsident der Diakonie Deutschland und Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung.