Berliner Bischof Stäblein: Jede Seite der Studie rüttelt auf

Ein Forscherteam hat eine Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche veröffentlicht. Kirche war kein Schutzraum. Ein Gastbeitrag des Berliner Bischofs Christian Stäblein.

So sieht die Missbrauchsstudie in Papierform aus
So sieht die Missbrauchsstudie in Papierform ausepd-bild / Jens Schulze

Der Abschlussbericht der Forum-Studie – der Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland, so der volle, in sich aussagekräftige Titel – liegt seit letztem Donnerstag öffentlich vor. Jeder kann ihn einsehen und nachlesen, richtig so!

Es rüttelt unsere evangelische Kirche in ihren Grundfesten auf. Weil endlich die Stimme der Betroffenen systematisch zu Gehör gebracht ist – mit allen Wahrnehmungen und Forderungen. Zuerst aber halten sie der evangelischen Kirche den Spiegel vor. Wie kirchlicher Harmoniezwang und Abwehr den Schmerz der Betroffenen noch verstärkt haben. Das ist etwas, was mich besonders durchschüttelt beim ersten Lesen. Wie in unseren Strukturen Betroffene Gewalt erfahren haben. Und dann, wenn sie geredet haben, noch mal weg­gedrängt, diffamiert worden sind. Statt dass Kirche ein Schutzraum ist, ist es ein Raum doppelter Beschämung.

Der Berliner Bischof Christian Stäblein
Der Berliner Bischof Christian StäbleinImago / epd-bild

Der Abschlussbericht kann für uns kein Abschluss sein, sage ich. Aber Vorsicht, sowas kommt schnell floskelhaft daher. Es ist zu oft gesagt und dann doch zu wenig getan worden. Das gilt auch für das Wort erschütternd. Was im Bericht auf über 800 Seiten an Fällen von sexualisierter Gewalt laut wird, ist mit Erschüttern nur unzureichend beschrieben. Zugleich gilt: Wer von Institutionsseite sich in Selbst­emotionalisierung ergeht und diese nur ständig wiederholt, steht im Verdacht, es dabei belassen zu wollen. Der Selbstschutzmechanismus einer Institution, die sich durch ­ihre Vertreterinnen und Vertreter immer wieder nach vorne drängelt, muss an sein Ende kommen. Deutungsmacht ist ab­zugeben mit dem, was in der Studie zu lesen ist.

Pastoralmacht und Selbstidealisierungen

Man kann nur mahnen, dass es auch getan wird. Es gibt auch ein falsches zu schnell sein wollen. Wer die Studie wirklich liest, wird auf jeder Seite mit Sätzen aufgerüttelt, die erstmal durch­dringen müssen: Über spezifisch evangelisch-kirchliche Bedingungen und Begünstigungen von ­sexualisierter Gewalt und Missbrauch. Pastoralmacht, unklare ­Begrenzungen und Abgrenzungen, Selbstidealisierungen in vorgeb­licher Beteiligung und angeblicher Augenhöhe. Die Studie führt vor: Es sind praktisch ausschließlich Täter, männlich. Die patriarchale Struktur in ihrer Begünstigung und Deckung von Taten und Tätern ist unübersehbar, ist toxisch. All das ist zu hören, dazu von Strukturen, die Aufdeckung verhindern, weil Verantwortungsdiffusion durch eine Überzahl an Ebenen und Zuständigkeiten besteht, Verantwortung selbst so faktisch zum Verschwinden kommt. Wer nach zwei Stunden Lesen meint, auf alles schon eine Antwort zu haben, will womöglich gar nichts verändern?!

Wie es ein falsches zu schnell ­geben kann, so erst recht ein quälendes zu langsam. Es geht um Konsequenzen, die nach dieser Hellfeld-Studie endlich auch an das Dunkelfeld der sexualisierten Gewalt herangehen. Es geht um Konsequenzen, die die tatermöglichenden Strukturen endlich austrocknen. Manches davon ist seit ­wenigen Jahren auf dem Weg – ­Prävention in jeder Aus- und Fortbildung, Interventionsteams, Meldepflichten, Schutzkonzepte –, viel ist noch zu tun. Nicht irgendwann. Umgehend. Die Punkte sind benannt. Das beginnt bei der noch offenen Prüfung der Akten – wie bitter, dass das wieder angemahnt werden muss. Und es soll münden in ein „Recht auf Aufarbeitung“.

„Vorschnell von Vergebung geredet“

Konsequenzen. Waren allzu oft fromme Reden, in denen, auch das führt die Studie vor, statt Unauf­lösbares und Schuld auszuhalten, vorschnell von Vergebung geredet, aber dadurch faktisch Verstummen erzwungen wurde. Wenn aus falsch verstandenem Evangelium gewaltbringende Ideologie wird. Es gilt: Wir haben nicht genug gehört. Wir haben nicht genug geschützt. Jeder einzelne Fall bringt zum Einsturz, wofür die Evangelische Kirche stehen sollte und wollte.

Mancher erwartet vielleicht von mir angesichts des Versagens doch am Ende aufbauende Sätze: Zu Wert und Grund der Kirche, zur Kraft der Erneuerung aus dem Wort Gottes. Das hat seine Zeit, ganz klar. Im ­Moment gilt: Diese Kirche lieben heißt, die nötigen Konsequenzen ziehen. Es kann und darf keinen ­anderen Weg mehr geben.

Christian Stäblein ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).