Autor Oschmann über die AfD, den Osten und alte Ungleichheiten

Vor einem Jahr gelang dem Leipziger Germanistik-Professor mit dem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ ein Bestseller. Mit Kritik an Westdeutschland sparte er nicht. Inzwischen sieht er leichte Besserungen.

Ein Jahr nach Erscheinen seines Bestsellers „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ sieht der Autor Dirk Oschmann, dass Ostdeutschland in Medien und Politik eine größere Relevanz bekommen hat. „Das Thema hat insgesamt eine viel größere Aufmerksamkeit bekommen“, sagte der Germanistik-Professor am Montag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Leipzig. Man versuche, in den Medien zumindest teilweise umzusteuern, indem man differenzierter, fairer und sensibler über „den Osten“ berichte.

KNA: Herr Oschmann, Ihr Bestseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ feiert in diesen Tagen einjährigen Geburtstag. In dem Buch schreiben Sie mit Leidenschaft über die mangelnde Repräsentanz des Ostens in den Medien und in der Politik. Was hat sich seit der Veröffentlichung geändert?

Oschmann: Das Thema hat insgesamt eine viel größere Aufmerksamkeit bekommen. Man versucht, in den Medien zumindest teilweise umzusteuern, indem man differenzierter, fairer und sensibler über „den Osten“ berichtet. Auch in der Politik spielt es mittlerweile eine größere Rolle. Es gibt Initiativen, stärker auf Ostdeutsche zu achten. Manchmal freilich mit grotesken Ergebnissen.

Das Bundeskanzleramt hat kürzlich eine Stelle ausgeschrieben, bei der ausdrücklich Menschen mit Migrationshintergrund und Ostdeutsche zur Bewerbung ermuntert wurden. Auf gute Deutschkenntnisse werde Wert gelegt. Zurecht wurde diese Form der Ausschreibung scharf kritisiert, etwa von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff. Ich denke, man muss abwarten, wie nachhaltig die Veränderungen sind.

KNA: Der Osten steht derzeit tatsächlich sehr im Fokus. Allerdings häufig negativ. Die Ostdeutschen stehen jetzt unter Generalverdacht, AfD-Sympathisanten, also quasi „Nazis“ zu sein. Wie nehmen Sie diesen Mechanismus des kollektiven Anbräunens wahr? Gerade auch vor dem Hintergrund, dass AfD-Spitzenpolitiker wie Björn Höcke West-Exporte sind.

Oschmann: Diese Verknüpfung von Osten und AfD entspricht dem typischen Externalisierungsmodus, den der Soziologe Stephan Lessenich beschrieben hat: Probleme werden externalisiert, ausgelagert. Müll wird nach Asien geschafft, Fußbälle werden in Bangladesch oder Pakistan von Kindern genäht. Probleme, die die gesamte Gesellschaft hat, werden mit Vorliebe allein dem Osten zugeschrieben.

Der Westen entlastet sich dadurch komplett selbst, als hätte er nichts damit zu tun. Abgesehen von Tino Chrupalla kommt die ganze AfD-Führungsriege in der Tat aus dem Westen, wie auch der rechte Vordenker Götz Kubitschek. Sie sind auf dem braunen Boden des Westens gewachsen und haben in den letzten Jahrzehnten den braunen Resonanzboden im Osten mobilisiert.

KNA: Aus welchen Gründen ist die AfD bei Umfragen so stark im Osten?

Oschmann: Die AfD ist die deutsche Populismus-Variante, wie wir sie aus anderen Ländern kennen. Amerika, Frankreich, Italien, England, Niederlande, Dänemark, Schweden, Schweiz – überall stehen die liberalen Demokratien unter Druck. Der Neoliberalismus der vergangenen 40, 50 Jahre hat den Populismus als Gegenbewegung hervorgerufen. Die akademischen Eliten machen Politik für die globalen, mobilen und gebildeten Städter und nicht für die ländlichen Gebiete. Deshalb sind etwa die Grünen auf dem Land so schwach.

KNA: Ländliche Gebiete gibt es im Westen auch…

Oschmann: Aber der Stadt-Land-Unterschied ist im Osten größer. Die AfD ist auch deshalb im Osten so stark, weil sich hier die sozialen Probleme und Ungerechtigkeiten schärfer geltend machen. Eine Person im Osten verdient wesentlich weniger, erbt wesentlich weniger und verfügt selten oder nie über Vermögen; deshalb hat sie ein sechsmal höheres Armutsrisiko. Sie ist deshalb zum Beispiel den Belastungen der Inflation viel stärker ausgeliefert. Auch der Krieg in der Ukraine ist geografisch viel näher, als wenn man in Aachen oder Köln lebt. Der Krieg ist äußerlich näher und damit auch innerlich. Alles passiert schneller und eher im Osten!

KNA: Haben Sie noch andere Beispiele für diese These?

Oschmann: Sehr gut war das zu erkennen bei den Wahlen in Bayern und Hessen im vergangenen Jahr, wo der Westen eine Entwicklung nachvollzogen hat, die im Osten schon länger im Gange ist, eben aufgrund der oft prekären Lebensbedingungen. Die AfD hat nun in Bayern und Hessen jeweils um 4 Prozent zugelegt. Und erst dann hat übrigens die Bundespolitik reagiert – beispielsweise mit einem Migrationsgipfel. Solange die AfD nur im Osten stark war, hat es niemanden interessiert. Erst als der Westen nachzog, wurde es ein Thema.

Davon abgesehen ist die Spekulation erlaubt: Wenn es in Bayern nicht die CSU und die Freien Wähler gäbe, sondern nur das übliche Parteienspektrum, wären die Ergebnisse für die AfD dort vermutlich ähnlich wie in Sachsen oder Thüringen. Man muss also auch immer die konkrete Parteienlandschaft beachten.

KNA: Laut dem jüngsten Sachsen-Monitor wünschen sich 42 Prozent der Menschen in Sachsen „eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Liegt das auch an der anderen Parteienlandschaft?

Oschmann: Ich glaube schon, dass wir die Parteienlandschaft ernstnehmen müssen. Die FDP und die Grünen haben im Osten nie wirklich eine Rolle gespielt. Die Linke hat sich im Laufe der Jahre selbst zerlegt und fällt als sogenannte Kümmerer-Partei nun weg oder ist von dem Bündnis Sahra Wagenknecht abgelöst worden.

Die AfD versucht auch, dieses Vakuum zu füllen. Sie tritt auf mit dem Anspruch, sich um die sozialen Probleme zu kümmern. Es ist also ein sehr reduziertes politisches Spektrum, das im Osten übrig bleibt. Die SPD zum Beispiel ist zuletzt in Sachsen auf fünf Prozent gekommen. Viele Wähler sind von den etablierten Parteien enttäuscht und wenden sich der AfD zu.

Man würde auf jeden Fall fehlgehen, die gesamte Wählerschaft der AfD den Nazis zuzurechnen. Das sind vielleicht 10 bis 15 Prozent. Viele der anderen sind von der Politik der letzten Jahre enttäuscht und entscheiden sich eher aus Protest für die AfD. Diese Menschen müssen mit guter Politik wieder erreicht werden. So stellt sich mir die Lage dar.

KNA: Beim beruflichen Aufstieg bekommen nach wie vor Westdeutsche meist den Zuschlag. Was können Ostdeutsche dagegen tun?

Oschmann: Ostdeutsche müssen sich auf jeden Fall stärker öffentlich artikulieren und an gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen beteiligen, und das nicht nur aus ostdeutscher Perspektive, sondern einfach als gleichwertige Gesprächsteilnehmer und Mitbestimmer.

KNA: Was können Wessis im angespannten Jahr 2024 von Ossis lernen?

Oschmann: Dasselbe, womit die Menschen in Ostdeutschland schon seit Jahrzehnten existenziell zu tun haben: mit den Veränderungen unserer Welt rechnen und sich ihnen mit Mut stellen. Und im übrigen nicht zu glauben, immer und überall im Recht zu sein.