Aus New York geklaut: Die Berliner Tafel wird 30

Vor dreißig Jahren 1993 gründete Sabine Werth die „Berliner Tafel“. Damals gab es Schlagzeilen wie: „Sozialarbeit statt Tennisclub“ oder „Vom Tisch der Reichen auf den Tisch der Armen“.

Sabine Werth
Sabine WerthRolf Zöllner/ epd

Berliner Tafel: Lebensmittel retten und Tüten packen für die Ärmsten – ein Engagement mit Vorbild in New York City

VON KATHARINA KÖRTING

Berlin. „Als wir vor 30 Jahren angefangen haben“, erzählt Sabine Werth, Mitgründerin und Vorsitzende des Vereins Berliner Tafel, „da sagte die damalige Kohl-Regierung, es gebe keine Armut in Deutschland. Das würde alles über unsere Sozialsysteme geregelt.“ Tatsächlich habe es damals wie heute Lebensmittelverschwendung gegeben und Menschen, die sich das Nötigste nicht leisten können. Damit will sich die Sozialpädagogin bis heute nicht abfinden. Ein Mitglied ihrer damaligen Frauengruppe aus dem wohlhabenden Berliner Stadtteil Grunewald brachte einen Zeitungsartikel über „Harvest New York“ mit, ein Projekt, bei dem Ehrenamtliche nach Empfängen die übrig gebliebenen Esswaren einsammelten und zu Obdachlosen brachten. „Da dachten wir: Das können wir auch“, sagt Werth. Sie haben Fünf-SterneHotels angefragt, ob sie ein bis zweimal in der Woche für 70 Personen kochen würden. „Dieses warme Essen haben wir dann direkt in eine Übernachtung gebracht. Und so fing das Ganze an.“

Eine Idee macht Schule

Eine Idee mit Nachahmungspotenzial Die Resonanz in den Medien sei positiv gewesen: „Sozialarbeit statt Tennisclub“ lautete eine Schlagzeile, eine andere „Vom Tisch der Reichen auf den Tisch der Armen“. Von den ersten Mitstreiterinnen ist keine mehr dabei, aber die Idee verbreitete sich rasch. 1994 gründeten sich in München und Neumünster weitere Tafeln, heute sind es deutschlandweit 960. Wenn man Sabine Werth zuhört, scheint es, dass die Menschen nicht nur Lebensmittel verschwenden, sondern auch sehr hilfsbereit sind. Immer neue Türen tun sich auf. Seit 2004 erfolgt die Ausgabe im Rahmen von „Laib und Seele“ in Zusammenarbeit mit der Kirche – zu unterschiedlichen Bedingungen. „In vielen Gemeinden muss Miete gezahlt werden“, berichtet Werth, „in anderen nur die Nebenkosten oder die Putzkosten.“ Sie finde die verschiedenen Arten, solidarisch zu sein, „schon sehr interessant“.

Ausgabestellen in Kirchen

In den kirchlichen Ausgabestellen erhalten Bedürftige seitdem Lebensmittel für Zuhause. Berlinweit gibt es 47 davon, in ganz Deutschland mehr als 2 000. Zwei Millionen Menschen nutzen das Angebot. 60000 Ehrenamtliche packen mit an – etwa 20 Prozent von ihnen versorgen ihre Familien selbst über die Tafel. „In der Corona-Zeit haben in Berlin rund 1 500 Ehrenamtliche 175 000 Tüten an Wohnungstüren geliefert“, erzählt Werth. Und es sieht nicht so aus, als würde die Arbeit weniger – im Gegenteil. Waren es im Februar 2022 noch 40 000 Bedürftige, die an die Ausgabestellen kamen, sind es mittlerweile 80 000 Menschen. Viele von ihnen flohen aus Kriegsgebieten, vor allem aus der Ukraine.

Durch und durch professionell

„Anfangs haben wir jeden Apfel einzeln aufgelesen, und ich habe die Sachen mit meinem privaten PKW ausgefahren“, erinnert sich Werth. Das läuft heute längst professioneller ab: Die Berliner Tafel hat 37 hauptamtliche und rund 2 700 ehrenamtliche Mitarbeiter*innen. Eine von ihnen ist Jasmin Brede. Obwohl sie im Berliner Norden wohnt, fährt sie einmal in der Woche in die Erlöserkirche in Tiergarten. „Das hat sich durch Zufall ergeben.“ Als vor zwei Jahren ihr Ruhestand begann – sie war Beamtin bei der Justiz – wollte sie „etwas Gutes tun“. Einige holen die gespendete Ware von den Supermärkten ab, andere laden sie aus, wieder andere packen die Tüten, und für Empfänger*innen, die nicht gut zu Fuß sind, werden sie bis vor die Tür gebracht. Die Empfänger*innen werden „Kundinnen und Kunden“ genannt, sie geben pro Tüte einen Euro, sagt Rolf Jaenke, der seit 15 Jahren ehrenamtlich dabei ist.

Ohne Bedürftigkeitsnachweis gibt es nichts

Interessierte müssen sich anmelden und nachweisen, dass sie bedürftig sind. 100 bis 150 Familien versorgt die Ausgabestelle der Erlöserkirche. Und wenn es mal nicht für alle reicht? „Dann geben wir Nudeln oder Reis aus“, sagt Jaenke. Manchmal müssten sie jedoch auch Leute abweisen. In dem Fall springt die nächstgelegene Pop-Up-Ausgabe ein, ein nicht reguläres Angebot von „Laib und Seele“. Davon gibt es mittlerweile acht Stellen in Berlin.

Helfen und Spaß haben

Katharina Körting

Doris Sternberg hat heute ihren ersten Einsatz in der knallroten „Laib und Seele“-Schürze. „Es ist nett“, sagt sie, während sie Obst und Gemüse in Papiertüten packt, die sie danach zur Abholung ins Kirchenschiff stellt. „Ich bin momentan arbeitslos“, erzählt die 59-Jährige, „und da dachte ich, ich kann mich hier einbringen.“ Zusammen mit rund 20 weiteren Helferinnen – einige Männer sind auch darunter – ist sie von etwa 9 bis 15 Uhr mit Lebensmitteln beschäftigt. Sie will wiederkommen: „Es gefällt mir hier.“ Die Stimmung ist heiter-konzentriert, irgendwie hell. Im Vorraum, wo sonntags die Gottesdienstbesucher eintreten, liegen auch Kartons mit nicht essbaren Spenden wie Windeln oder Binden. Manchmal kommen auch Spenden, die nicht unbedingt gebraucht werden – eine Kiste voll mit Tetrapaks mit veganer Vanillesauce zum Beispiel.

Nur aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen finanziert

Die Berliner Tafel finanziert sich ausschließlich durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Von der Politik wünscht Sabine Werth sich, „dass sie sich wirklich mal Gedanken darüber macht, wie Armut effektiv zu begrenzen, zu beenden sein könnte“. Und von der Kirche? „Dass wir die Aktion noch so lange weiter gemeinsam machen, wie es eben notwendig ist – und noch bessere Unterstützung.“ Außerdem müssten die Gesetze geändert werden: „Wenn das Wegwerfen von Lebensmitteln legal ist, darf das Retten nicht illegal sein“, meint Sabine Werth. Ein Hoffnungsschimmer: Bund und Länder suchen derzeit nach Wegen zur Entkriminalisierung des sogenannten Containerns. www.berliner-tafel.de/laib-und-seele Spendenkonto Berliner Tafel e.V. Berliner Volksbank BLZ 100 900 0