Am schwersten ist das seelische Gepäck

Am Ende des Jakobsweges, in Santiago de Compostela, ist die Pilgerseelsorge gefragt

Wer pilgert, hat das schwerste Gepäck auf der Seele: Rund 400 000 Menschen haben sich bis zur Pandemie jährlich auf den Weg gemacht, um auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu gehen. Am Ziel finden sie sich im besten Fall selbst – auf jeden Fall aber ein offenes Ohr. Seit 2009 bieten die Diözese Rottenburg-Stuttgart und das Katholische Auslandssekretariat der Deutschen Bischofs-Konferenz von Mai bis Oktober Seelsorge in Santiago für Pilger aus dem deutschsprachigen Raum an. Das Angebot ist katholisch verantwortet, steht aber Menschen aller Konfessionen und Religionen offen. Die Idee zu dem Projekt hatte der katholische Pfarrer Rudolf Hagmann.

Pilgern bringt viele Erlebnisse mit sich

„Die Menschen haben auf ihrer Pilgerreise viel erlebt und zum Teil das Bedürfnis, über ihre Erfahrungen zu sprechen“, erläutert Hagmann. „Bis 2009 gab es aber keine deutschsprachigen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner dafür.“ Seit 2009 stehen Teams aus drei bis vier Leuten bereit, die ehrenamtlich jeweils für zwei bis drei Wochen ein seelsorgliches Angebot in Santiago machen und Menschen bei ihren Fragen begleiten. „Wir bieten einen deutschen Gottesdienst, eine spirituelle Führung zur Kathedrale, und für Gesprächs­angebote und die Beichte ist auch immer ein Priester im Team.“

Meist ist ein persönlicher Grund der Auslöser dafür, dass Menschen ihren Alltag hinter sich lassen, um 800 Kilometer – so lang ist der bekannteste Jakobsweg Camino Francés – zu Fuß zurückzulegen. „Viele pilgern ausgelöst durch eine Lebenskrise“, hat Hagmann beobachtet: eine Trennung, ein Verlust, eine Erkrankung oder persönliche Probleme. Auch Menschen in Schwellensituationen, etwa beim Übergang vom Beruf in den Ruhestand oder vor der Eheschließung, nutzten den Pilgerweg zur Orientierung für den Lebensweg. „Einer hat mir mal gesagt: Ich bin als Wanderer losgegangen und als Pilger angekommen.“ Einige würden auch für andere gehen, die den Weg selbst nicht mehr machen könnten. Sogar eine Hochzeit auf dem Pilgerweg hat Hagmann schon erlebt.

Gedanken, die im Alltag keinen Platz haben

Rudolf Hagmann sieht die Menschen, wenn sie ankommen. „Die Stille, die Landschaft, Begegnungen und Erlebnisse lösen viele Fragen aus“, so der Theologe, „viele setzen sich beim Pilgern mit Dingen auseinander, die im Alltag sonst keinen Platz haben.“ Entschleunigung sei ein wichtiger Faktor, dazu wollten viele ihr seelisches Gepäck loswerden. Ein durchgeplanter, stressiger Alltag, der Wunsch, Kontakt zu sich selbst zu bekommen, die Frage nach dem tieferen Sinn – oft stecke eine tiefe Sehnsucht nach einem anderen Leben hinter dem Aufbruch. „Es gibt Menschen, die den Glauben finden, aber es gibt auch viele andere, die der Kirche nicht nahestehen.“

Ein neues Bild von Kirche

Wichtig sei, dass sie nach dem Pilgern erleichtert wieder nach Hause gehen könnten. „Symbolisch wird dafür ein Stein an einem Kreuz abgelegt, viele machen beim Pilgern eine befreiende Erfahrung.“ Es gehe auch um die Versöhnung mit Gott und mit sich selbst, hält Hagmann fest.

„Die Arbeit macht große Freude, weil sie Sinn hat“, sagt der Seelsorger. Auch sei es schön, mit hoch motivierten Menschen im Team zu arbeiten. Beim Pilgern gingen Menschen einen neuen Weg, um am Ziel zu entdecken, dass Kirche viel größer sei als die Institution. „Am Ende steht ein viel weiterer Kirchenbegriff.“ Mittlerweile würden viele den Weg oder auch andere Abschnitte des Jakobswegs wieder und wieder gehen.

Zu ihnen gehört die Hamburgerin Michaela Gercke. Sie ist 2007 das erste Mal den Jakobsweg nach Santiago de Compostela gegangen und seitdem schon neun weitere Male dort gewesen. „2007 war ich Anfang 30, hatte mein Studium beendet und einen anderen Job angetreten, als ich eigentlich gedacht hatte“, erzählt sie. „Ich wollte einfach in Ruhe nachdenken.“ Weil sie schon Pilger getroffen hatte, die von ihren Erfahrungen erzählt hatten, nutzte sie die erste Gelegenheit, um zwei Monate freizunehmen und sich auf den Weg zu machen. „Pilgern war für mich komplett neu“, sagt sie, „beim Losgehen hatte ich immer den Gedanken im Kopf, dass man ja jederzeit wieder umkehren könnte. Dann habe ich gemerkt, dass man schnell lernt, an gar nichts zu denken. Ich konnte erstmals abschalten.“ Am Ende des Pilgerwegs sei sie mit ihrer Situation im Reinen gewesen.

Pilgern, sagt sie, sei eine grandiose Erfahrung. „Es ist immer ein spirituelles Erleben dabei.“ Dabei habe es viele Impulse von anderen Pilgernden aus unterschiedlichen Weltanschauungen gegeben, die sie zum Weiterdenken angeregt hätten. Durch die Möglichkeit, auf den Etappen regelmäßig an Andachten oder Messen teilzunehmen, sei das Pilgern für sie auch ein Wiederentdecken kirchlicher Rituale geworden. „Ich bin evangelisch und pilgere in einem katholischen Umfeld, das ist sehr spannend.“ Unterwegs treffe man viele Menschen, könne reden, aber auch schweigen. „Ich fühle mich innerhalb dieser Gemeinschaft wohl. Es ist schwer, wenn der Pilgergang nach vier Wochen vorbei ist.“

Deshalb hat Michaela Gercke zuhause dafür gesorgt, dass das Pilgern auch Teil ihres Alltags bleibt. „Am Anfang erzählt man seiner Familie und seinen Freunden viel“, sagt sie, „aber irgendwann haben die genug gehört.“ Sie hatte aber noch nicht genug erzählt und entdeckte im Internet ein Forum, in dem sich Pilger über ihre Erfahrungen austauschten.

Vom Pilgern erzählen beim Stammtisch

Aus den Chats entstand der Wunsch nach persönlichen Treffen, und damit war 2007 der Pilgerstammtisch geboren. „Am Anfang waren wir sechs Leute, heute sind wir 50 bis 60 Leute, die sich einmal im Monat treffen, um sich auszutauschen.“

Alle hätten ähnliche Bedürfnisse, aber mittlerweile seien auch Menschen dazugekommen, die das erste Pilgern erst planen und Beratung wollten. Auch Michaela Gercke möchte so bald wie möglich wieder losgehen. Zuhause hat sie einen Schrank, in dem alle Dinge bereitliegen, um innerhalb einer Stunde aufbrechen zu können. „Ich habe noch nichts geplant, aber Planen gehört auch nicht zum Pilgern.“