Allergische Reaktionen gegen staatlichen Zugriff auf den Körper

Der Streit ums Impfen ist nicht neu. Auch als der Reichstag vor 150 eine nationale Pocken-Impfpflicht beschloss, gingen Impfgegner auf die Barrikaden Sie blieben aber eine kleine Minderheit.

„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Schon im April 2020, also ganz zu Beginn der Corona-Pandemie, war dem damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) klar, welche Brisanz viele der staatlichen Corona-Maßnahmen hatten. Vier Jahre später sehen Politiker wie der damalige CDU-Vorsitzende Armin Laschet in der Corona-Politik die Ursache für eine Spaltung der Gesellschaft, die bis heute fortdauert.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass staatliche Gesundheitspolitik und Eingriffe in Grundrechte schon früher zu allergischen Reaktionen der Deutschen führten. Beispielsweise bei der Einführung einer nationalen Impfpflicht, die der Reichstag vor 150 Jahren, am 8. April 1874, beschloss.

In fünf Sitzungen stritt das Parlament des neu gegründeten Reiches lautstark über eine verpflichtende Impfung gegen die Pocken, die sich zuvor in Deutschland stark ausgebreitet hatten. Die Argumente haben sich bis heute kaum verändert: Befürworter argumentierten, man müsse in einer medizinischen Notlage die Freiheit des Einzelnen im Interesse der Gemeinschaft einschränken. Die Gegner warnten: Der Staat habe nicht das Recht, über den Körper des einzelnen zu verfügen. Sie verwiesen auch auf Impfschäden.

Bis weit ins 19. Jahrhundert waren Infektionskrankheiten wie Pest, Cholera, Tuberkulose, Diphtherie und Masern weltweit die Todesursache Nummer eins. Die Pest des 14. Jahrhunderts, die in Europa 25 Millionen Menschenleben kostete, war zugleich Auftakt für eine staatliche Seuchenpolitik. Die italienischen Hafen- und Handelsstädte Ragusa, Florenz und Venedig entwickelten Schutzmaßnahmen, die zugleich tief in das soziale, religiöse und wirtschaftliche Leben der Bürger eingriffen.

Die Obrigkeit ließ Kranke in Pesthäusern isolieren. Schiffsreisende mussten sich einer Quarantäne unterwerfen. Grenzsperrungen unterbanden den Handel. Auch Gesunden wurde verboten, Kirchen, Feste und Märkte zu besuchen. Beerdigungsrituale wurden verboten.

Auch die Pocken sorgten immer wieder für Schrecken und Tod. Dabei hatten Menschen in Indien und China schon weit vor Christi Geburt beobachtet, wie man der Seuche Herr werden könnte: Personen, die eine Infektionskrankheit überstanden hatten, waren vor weiteren Ansteckungen geschützt. Der gleiche Effekt trat ein, wenn man Gesunde mit abgeschwächten Formen des Erregers in Kontakt brachte. Den Durchbruch schaffte 1796 der englische Landarzt Edward Jenner, der Menschen mit Viren von Kuhpocken vor der Seuche immunisierte.

Seitdem begannen die europäischen Staaten mit Impfprogrammen. Während Preußen zunächst nur für einzelne von staatlicher Unterstützung abhängige Untertanen Zwangsimpfungen festlegte, führten Bayern und Baden schon 1807 beziehungsweise 1815 den gesetzlichen Impfzwang ein.

1835 verschärfte Preußen seinen Kurs: Impfzwang galt seitdem für Pockenzeiten und für den von staatlicher Fürsorge und von Dienstherren abhängigen Personenkreis. Jedem wurde die Impfung empfohlen; bei Erkrankung ungeimpfter Kinder wurde mit Strafe gedroht. Eine Verbesserung brachte das kaum. Gab es um 1833 jährlich rund 8.000 Pockentote, waren es um 1866 etwa 12.000. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 brachte einen neuen Ausbruch.

Beim Militär dagegen gab es wegen der strikten Zwangsimpfungen nur sehr wenige Erkrankungs- und Todesfälle: Dass die französischen Soldaten während dieser Zeit deutlich höhere Todesraten verzeichneten, war für Reichskanzler Otto von Bismarck ein wichtiges Argument für eine reichsweite Impfpflicht.

Das Gesetz wurde mit 183 zu 119 Stimmen beschlossen. Es sah eine gesetzliche Impf- und Zweitimpfpflicht bei Kindern von zwei und zwölf Jahren vor. Eltern und Vormündern drohte eine Geldstrafe oder Haft bis zu drei Tagen, wenn ein Kind ohne triftigen Grund ungeimpft blieb.

Von Anfang an gab es auch Widerstand: Erste Impfgegner-Organisationen wurden 1869 in Leipzig und Stuttgart gegründet. In der Weimarer Republik hatte der Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung rund 300.000 Mitglieder. Dennoch blieb die Impfopposition eine Minderheit. Die Rate der Impfverweigerungen sank von etwa 6 Prozent 1876 auf ungefähr 2 bis 2,5 Prozent Ende des Jahrhunderts.

1900 beschloss der Reichstag auch ein „Reichsseuchengesetz“. Für Lepra, Cholera, Fleckfieber, Gelbfieber, Pest und Pocken wurden Richtlinien zur Verhütung und Bekämpfung verankert. So wurde ein Kaiserliches Gesundheitsamt gegründet und eine Medizinalstatistik aufgebaut. Durch eine gesetzliche Leichenschau und die Anzeigepflicht von ansteckenden gemeingefährlichen Krankheiten sollten Seuchen rechtzeitig erkannt werden.

1976 hob der Bundestag die Pocken-Impfpflicht für die Bundesrepublik auf. Die Weltgesundheitsorganisation erklärte die Pocken für weitgehend ausgerottet. Seitdem wächst in Deutschland eine Bevölkerung ohne die typischen Oberarmnarben von der Impf-Ritzung heran.