Das Leid von Kindern und Heranwachsenden steht im Zentrum mehrerer Filme, die in Locarno für Diskussionen sorgen. Unter den Erstlingswerken ragt “Der Fleck” von Willy Hans heraus über Ängste und Freuden des (Jung-)Seins.
Maria kann nicht mit Eric. Die Schriftstellerin findet keine Worte, um sich ihrem Neugeborenen zuzuwenden. Sie kann mit dem Menschlein nicht reden, das sie an ihre Brust legt. Kann ihm nicht sagen, dass sie es liebt, und kann ihr Kind auch nicht beruhigen, wenn es schreit. Und es schreit oft in Mar Colls Film , der im Wettbewerb des 77. Locarno Film Festivals läuft, das noch bis Sonntag dauert.
Ein verstörender Film. Nicht nur, weil schreiende Babys auf der Kinoleinwand grundsätzlich schwer zu ertragen sind. Sondern vor allem, weil die von Laura Weissmahr gespielte Frau zwar den Namen der Mutter Gottes trägt, aber selbst nicht Mutter sein kann und das Weinen ihres Kindes oft gar nicht zu hören scheint. Stattdessen verliert sie sich in ihren Gedanken und vergisst darüber ihr Kind.
Das Ganze spitzt sich weiter zu, als die Geschichte einer Kindsmörderin Maria nicht mehr los lässt. Und da “Salve Maria” akustisch wie ein Horrorfilm aufbereitet ist, geht der Film ziemlich an die Nieren.
Eric ist nicht das einzige Kind im Internationalen Wettbewerb, das unter seinen Eltern leidet. Mit “Der Spatz im Kamin” von Ramon Zürcher und “Seses” von Laurynas Bareisa gibt es gleich zwei weitere disruptive Familiengeschichten.
ist der dritte Teil einer von Ramon Zürcher zusammen mit seinem Zwillingsbruder Silvan realisierten Trilogie, die das Zusammenleben in größeren Gemeinschaften thematisiert. Diesmal sind es die Familien zweier Schwestern, die sich anlässlich eines Geburtstages im Haus ihrer Kindheit treffen. Die eine hat das Haus nach dem Tod der Mutter übernommen und lebt darin mit ihrer Familie, die andere kommt zu Besuch.
Die Sticheleien zwischen den Schwestern lassen nicht lange auf sich warten. Da sind zu viele nichtschöne Erinnerungen an die Kindheit, und Schwieriges, was die Familie zerbrechen ließ. Wie es so ist, färbt das, was die Eltern plagt, auch auf die Kinder ab. Dass es dem Film und der weitgehend schweigenden Mutter Karen (Maren Eggert), von der aller Missmut auszugehen scheint, dennoch gelingt, sich trotz dieses familiären Tohuwabohus binnen 48 Stunden aus diesem Korsett zu befreien, ist eine große Stärke von “Der Spatz im Kamin”, der zeitweise aber auch ein bisschen vor sich hindümpelt.
Auch dreht sich um zwei Schwestern und ihre Familie. Die eine hat einen Banker geheiratet und mit ihm eine Tochter. Der Mann der anderen ist ein erfolgreicher Martial-Arts-Kämpfer; das Paar hat einen Sohn. Die beiden Familien fahren zusammen für einige Tage in das von den Schwestern ererbte Ferienhaus. Hier sind es dann die Männer, deren übergroße Egos aufeinanderprallen und die von den Schwestern mit ihren Kindern vorerst allein gelassen werden. Man fängt und findet sich wieder, die Kinder zerschmettern am nächsten Tag im lustvollen Spiel irgendwelche Keramik, danach geht es zum Schwimmen an den See.
Wie kann ein Vater ein Kind, das zögert, von sich aus ins Wasser zu springen, einfach ins Nass werfen? Man erfährt es in diesem Film nicht, denn die Regisseurin erklärt es nicht. Die Folgen dieses Übergriffes aber sind so verheerend, dass die Regisseurin das Ende vorwegnimmt, um danach im zweimaligen Neuanlauf zu erzählen, was damals am See weiter geschah.
Im zweiten Wettbewerb von Locarno, dem Erstlingswerken und zweiten Spielfilmen vorbehaltenen “Concorso cineasti del presente”, war in den ersten Festivaltagen von Willy Hans zu entdecken. Das zwischendurch ins Experimentelle gleitende Drama handelt von einer Gruppe junger Menschen, die einen Sommernachmittag an einem durch den Wald führenden Fluss verbringen.
Im Zentrum steht der 17-jährige Simon, der die Sportstunde schwänzt und von einem Freund mitgenommen wird. Man chillt, hängt herum, döst, kabbelt sich freundschaftlich. Die Erzählung ergibt sich aus der eintauchenden Beobachtung des Lebens. Von kurzen Interaktionen, kleinen Gesten und Regungen, dem Fließen des Wassers und Wandern des Lichts, dem Atmen des Dickichts. Von zufällig Gefundenem und zögerlichen Annäherungen, als Simon und Marie alleine ins Dickicht vordringen. “Der Fleck” ist ein Film, der Stimmungen und Gefühlen schildert und dabei einfühlsam das Lebensgefühl des (Jung-)Seins vermittelt, ein entspannender und sehr menschlicher Film.
In den ersten Festivaltagen gab es jenseits der Leinwand auch andere Aufregungen. So will die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit die Förderung strategischer Partnerschaften mit Kulturschaffenden in der Schweiz ab 2025 um 45 Prozent kürzen – von jährlich 3,7 auf 2 Millionen Franken. Locarno träfe das vor allem bei der Sektion “Open Doors”, die Filme aus dem globalen Süden unterstützt.
Für Irritationen sorgte auch die Ankündigung der neuen Festivalpräsidentin Maja Hoffmann, den Termin von Locarno in der Ferienzeit zu überdenken. Damit aber hat Hoffmann in ein Wespennest gestochen. Denn Locarno lebt seit Jahrzehnten davon, dass sich für das Publikum Ferienfeeling und Filmgenuss verbinden.
Wenn die scharenweise anreisenden jungen Menschen, unter ihnen viele Studierende, sowie Eltern und ihre schulpflichtigen Kinder im Teenageralter dem Festival fernblieben, würde sich dessen Besucherstruktur mit einem auffallend jungen Publikum verändern. Und auch den vom lokalen Tourismus lebenden Betriebe dürften Einnahmeeinbußen drohen.
Außerdem bleibt wenig Raum, das Festival kalendarisch zu verschieben, wenn Locarno sein stärkstes Alleinstellungsmerkmal – die Abendvorstellungen auf der Piazza – beibehalten will. Anfang September folgt schon das Filmfestival von Venedig, kurz darauf das Zurich Film Festival. Und zwischen Anfang Juni und Mitte Juli geht die Sonne in Locarno derart spät unter, dass mit der Filmvorführung erst nach 22 Uhr begonnen werden könnte. Das aber wäre trotz aller Liebe zu spätnächtlichen Aktivitäten für einen Teil des Publikums doch etwas sehr spät.